Musik als Leibesübung

aus: Musiktexte 149, 2016

Der Tod ist ständiger Stachel im Selbstverständnis einer sich als rational und aufgeklärt begreifenden Gesell- schaft, die sich aufgrund ihrer materiell-ökonomischen Existenzbedingungen als substantiell progressiv defi- niert. Die Endlichkeit menschlichen Lebens erscheint als ein unakzeptabler Störfaktor, der alles systemische Funktionieren im Kern angreift.

Damit einhergehende Unsterblichkeitsphantasien und das Streben nach Perfektion durch Kopplung mit Im- plantaten aller Art (Herzschrittmacher, Mikrochips aller Art) hängen grundlegend mit dem Gefühl menschlicher Unzulänglichkeit zusammen, der „Scham“, funktionsuntüchtig zu werden oder zu sein und dem biologischen Verschleiß nicht Einhalt gebieten zu können. Entsprechend werden Auswirkungen des allmählichen leiblichen Zerfalls verdrängt oder negiert.

Das dem Lebendigen in all seinen hin- und unzulänglichen Ausprägungen Bewegende und Bewegte ist der Tanz: dreidimensionale Raumfiguren, die sich in einem konkreten Raum, in einem vom Leib abhängenden Zeitverlauf bewegen.

Doch das ist in der aktuellen Lebenswirklichkeit nicht gleichbedeutend mit einem identitätsstiftenden Prozess zwischen Körper- und Persönlichkeitsbewusstsein, Körper- und Persönlichkeitsempfinden. Zu fragen bleibt, ob in einer Moderne, in der Zusammenhänge immer mehr se- pariert werden, überhaupt noch eine Einheit der Persönlichkeit aus Körper- und Subjektempfinden denkbar ist.

Der moderne Tanz reagiert darauf durch eine seitdem entstehende Geschichte der Desorganisation von Körper und Bewegung, Segmentierung von Bewegungsabläufen, wie zum Beispiel in den frühen Bauhaustänzen Os- kar Schlemmers, wie auch in Puppen- und Maschinentänzen oder Zerlegungen von Körperaktivitäten und Schwerpunktsverlagerungen in jüngerer Zeit, zum Bei- spiel bei William Forsythe, also letztlich der Aufgabe von organischen Ganzheitsmodellen und den damit verbundenen ästhetischen Konfigurationen; Körperbewegung wird zum Experimentierfeld.

Was hat all das mit Musik zu tun? Die Flüchtigkeit der Tanzbewegungen korrespondiert mit jener der Musik, beide Künste sind konstitutiv mit dem Verstreichen von Zeit verbunden. Sie bilden damit in ihren Resultaten in dem Sinn kein Objekt aus, wie es für die Malerei und Bildhauerei eher typisch ist.

Jeder, der Musik „übt“, kennt das: Dressur der Hand, des Munds, des Atems, Training der Muskulatur; Musik als Resultat von „Körperbeherrschung“ durch Bewegungskoordination und -training. Bewegungen von live spielenden Musikern sind als Tanz, die Aufführungen von Musik als Theater, folglich Musizierende als Raumfiguren mit Klangerzeugern wahrnehmbar.

Der Einsatz von Bewegungsenergie erfolgt zum Großteil unbewusst durch die notwendige Tätigkeit zur Klangproduktion und in ganz starkem Maße bei scheinbar unnötigen, unterstützenden Gebärden, wie zum Beispiel dem Schaukeln von Kopf und Oberkörper bei einem Flötisten. Diese Bewegungen beeinflussen den Klang, da sie helfen, die Körperenergie in klangerzeugende Energie zu verwandeln, den Körper im wörtlichen Sinne einzuschwingen auf eine sehr konzentrierte und vor allem spezialisierte Tätigkeit, um so eine gewisse Homogenität zwischen Körper und Geist herzustellen.

Man kann aber mit Bewegungsabläufen analog zum modernen Tanz auch bewusst umgehen, diese Einheit aufspalten und Bewegungen als einen separierbaren komponierbaren „Parameter“ erblicken, der in die live produzierte Musik störend, behindernd, verselbständigend, verhindernd, bereichernd, anarchisch eingreift.

Für die Musik scheinen sich mir deshalb vornehmlich folgende Arbeitsfelder aufzutun: die Präferenz des Geistes vor den Sinnen als Paradigma des Abendlands nicht schlicht und widerspruchslos zu reproduzieren, sondern durch Betonung des Kreatürlichen dieses Paradigma in Spannung zu versetzen. Außerdem und damit zusammenhängend, die Idee vom Körper als einer (mechanischen) Maschine aufzugreifen, weil in ihnen die Vorstellung bewahrt ist, dass der Geist sich den Körper zumindest zum Teil kompatibel machen kann, das heißt, das anarchische Potential des Leibes zu kontrollieren beziehungsweise zu negieren, um damit zu arbeiten.

Ausgewählte Körperaktivitäten, -überforderungen und Bewegungsverselbständigungen abzuverlangen, die in die übliche erlernte Bewegungskoordination zur Hervorbringung von Musik eingreifen, können den notwendigen „Dressurcharakter“ zivilisierter Musizierhöchstleistungen betonen. Dies kann ihre Unselbstverständlichkeit und das Subjekt/Objekt-Verhältnis von Musizierendem zu seinem eigenen Körper kenntlich machen, gegebenenfalls das Musikerego mit auf den Prüfstand stellen und durch Akzentuierung des Kreatürlichen die unaufhebbare Fremdheit gegenüber dem eigenen Körper hervorheben. Das in Korrespondenz zu setzen mit anderen Medien, leistet dem Vorschub und wäre ein eigener Untersuchungsgegensand, der hier aber nicht weiter verfolgt werden kann.

Es kommt jedoch weniger auf einen tatsächlichen Tatbestand an, als auf die Art der Wahrnehmung eines Zusammenhangs und die daraus resultierenden Schlussfolgerungen. Das Mechanische und Unorganische muss nicht als Ausdruck von Entpersonalisierung und eines kühl distanzierten Blicks aufgefasst werden, sondern kann gerade durch Bewahrung von Distanz und damit dem Fehlen einer naiven „direkten“ Expressivität Emotionalität und Nähe entstehen lassen, ja geradezu Intimität und Poesie hervorrufen und tatsächliche Fremdheit des nur scheinbar Vertrauten verdeutlichen.

Der Live-Musiziervorgang ist somit als Geste, Szene, Theater und damit als energetisches, drei- beziehungsweise mehrdimensionales Geschehen im jeweils konkreten Raum aufzufassen, bei dem die Schnittstelle zwischen Unbewusstem und Bewusstem, ob mit oder ohne Kopplung mit modernen Medien, berührt würde. Das heißt auch, Betonung der physischen Präsenz, des Einmaligen, des Unvollkommenen, des Unwiederbringlichen, das Kreatürliche als Eingriff in systemisches Denken und damit in sichernde Formanlagen und Strukturen, Erschöpfungen, Verletzlichkeiten und Rauheiten des Leiblichen als Arbeitsfeld mit aufzugreifen: Musik mit Hand und Fuß, Musik als Leibesübung – wie auch immer.