Fellkopie

Von: Tilman Reitz

Aus: Vortrag 07.07.2007 RB

Ich versuche einige strukturelle Bemerkungen zu machen über die Stücke, die wir noch hören werden und auch über dasjenige, das wir gehört und gesehen haben – dass es um Sehen und Hören geht, spielt eine wichtige Rolle. Ich habe mir sogar einen kleinen Titel ausgedacht für die kurze Einführung, nämlich Fellkopie. Ich habe ihn mir nicht wirklich ausgedacht, sondern das ist ein Wort, was ich gefunden habe auf einer der CD’s, die ich zur Vorbereitung gehört habe. Darauf steht „Zuspiel zum Stück Fellkopie“, mit zwei „ll“. Das Lustige daran ist: Alle anderen Titel dieses Stücks, die ich gesehen habe, lauten „Fehlkopie“, also mit „h“, und das trifft sich ganz gut, weil Fellkopie dann natürlich selber eine Fehlkopie wäre. Es ist aber noch in anderer Weise interessant und auch wichtig für das, was heute Abend noch passieren wird. Es ist nämlich so, dass man, wenn man eine solche Fehlkopie wahrnimmt, und zwar eine verschriftlichte, verhandschriftlichte Fehlkopie, auf zwei Dinge unmittelbar gestoßen wird. Erstens denkt man nicht, dass das eine Ursache hat, sondern man denkt, es hat einen Urheber. Das heißt, es ist nicht einfach eine technische Störung, keine falsche Mechanik, sondern es ist ein Mensch, der fehleranfellig ist und eventuell unabsichtlich etwas falsch aufgeschrieben hat. Der zweite Punkt ist aber: wir wissen nicht, ob das unabsichtlich ist. Ich habe auch nicht nachgefragt, aber wir können uns diese Frage stellen: War es Absicht? War es keine Absicht? Und wir können das sozusagen auch ohne den Urheber tun, weil diese Zeichenverschiebung oder Zeichenvertauschung etwas ist, das semantisch lesbar ist. Also, man kann dem unmittelbar eine Bedeutung zumessen, einfach deswegen, weil zufällig (?) die Vertauschung des „h“ durch ein „l“ einen neuen Sinn ergibt, zumindest eine sinnhafte Silbe, vielmehr sogar ein sinnvolles Wort. „Fell“ ist ein ganzes, für sich durchaus bestandsfähiges Wort, „Fehl“ dagegen klappt nur im Zusammenhang größerer Wörter, aber es ist eben eine Ersetzung, die die Bedeutung ändert – und in diesem Fall interessanterweise einen ziemlich großen Bedeutungsraum aufstößt.

Es ist nämlich so, dass man ja durchaus denken kann, dass Kopien mit Fell etwas zu tun haben. Das Unwahrscheinlichste wäre, dass Fell eingesetzt wird, um zu kopieren, wie eine Druckplatte zum Beispiel. Was aber getan werden kann, ist natürlich, dass man auf Fell eine Kopie macht. Und was es tatsächlich schon gibt in der Bildenden Kunst, ist, dass man aus Fell eine Kopie herstellt. Meret Oppenheim hat das gemacht, eine Kopie einer Tasse bzw. eine Tasse, die mit Fell überzogen ist. „Frühstück im Pelz“ heißt das Ganze. Man kann also auch aus Fell Kopien herstellen. Es wird aber dann noch interessanter, wenn man sich fragt, wo dieses Fell eigentlich herkommt. Wem oder was wurde dieses Fell abgezogen? Und man ist glücklich, wenn es keine Haut ist, die irgendjemandem abgezogen wurde – aber das Fell muss ja doch von irgendeinem Tier entfernt worden sein. Tiere spielen auch eine entscheidende Rolle heute Abend. Es ist so, dass Uwe Rasch einige Stück über Kafka komponiert hat. Und in einem dieser Stücke – dem größeren Stück, in dem das eben Gehörte einen Teil bildet – sind die Tiergeschichten Kafkas eine der zentralen Textgrundlagen. Und jetzt kann man sich entweder vorstellen, dieses Fell ist dem Tier abgezogen worden. Man kann sich aber auch vorstellen, es befindet sich noch am lebendigen oder toten Objekt. Und dann ist man wiederum bei Kafka und wieder bei einer Sache, die im eben Gehörten schon ziemlich wichtig war, nämlich dabei, dass auch sozusagen direkt auf das Fell oder die Haut lebendiger Wesen Zeichen geschrieben werden können. Bei Kafka findet das relativ brutal in der Strafkolonie statt, das ist die Bestrafung – erst in dem Moment, in dem der Gefangene vor Schmerz an der Eintätowierung von Zeichen stirbt, ist er fähig, den Sinn des eingravierten Textes zu verstehen. Das ist auch ein Punkt, auf den ich gleich noch kommen werde: in die Haut einschreiben oder ins Fell einschreiben kann auch bedeuten, dass das auf jeden Fall eine Verletzung ist, manchmal sogar mit letalen Folgen. Ich will aber erst noch erwähnen, dass das Fell auch musikalisch eine wichtige Rolle spielt: etwa als Trommelfell. Zunächst weil die Trommeln tatsächlich mit einem Fell bzw. eventuell mit einer aus einem Tier entfernten Membran bespannt sind. Und dann muss der Ton natürlich auch im Trommelfell, das heißt in unserer Membran ankommen. Und das ist für das, was ich noch sagen will, sehr wichtig, dass ein Medientransfer stattfinden muss, dass von dem einen Trägermedium etwas aufs andere Trägermedium übersetzt oder übertragen werden muss. Also, nicht nur die Felle werden entfernt, wieder aufgespannt, variabel eingesetzt, sondern auch die Dinge, die transportiert werden, die Töne, die Botschaften, die lesbaren Zeichen sind darauf angewiesen, dass sie von Trägermedium zu Trägermedium übertragen werden können. Und das ist natürlich wieder der Bogen zum Anfang, nämlich zu der Frage der Kopie. Es werden hier also anscheinend Kopien herstellt, die sich dann auf verschiedenen Trägermedien befinden.

Deswegen hat das, was ich eben gerade angesprochen habe, denke ich, auch ziemlich viel zu tun mit der Musik von Uwe Rasch. Ich vermute nämlich, dass es in all den Stücken, die wir heute hören, zentral um Übertragungsleistungen geht, dass Zeichenketten, dass vielleicht Botschaften übertragen werden von einem Trägermedium auf ein anderes oder aus einer Zeichensystematik, einer Zeichenkonfiguration in eine andere Zeichenkonfiguration. Und es spielt weiterhin eine große Rolle bei Uwes Kompositionen, dass es sowohl technische Fell- und Fehlkopien gibt als auch solche, bei denen Menschen beteiligt sind. Also, es verschiebt sich etwas, und das ist ein gewisses Problem für das Verständnis, und es kann humane und es kann nicht humane Quellen dieser Verschiebung geben. Und das Wichtigste hatte ich schon häufiger angedeutet, ein zentrales Medium ist der menschliche Körper selber. Ich versuche jetzt also einen ganz kurzen Parcours zu machen durch Uwe Raschs Stücke von heute Abend mit der Frage, inwiefern man sie als Fehlkopien oder als Fellkopien lesen oder begreifen kann.

Man kann hier bei drei Dingen ansetzen, ich hatte sie nebenher schon genannt. Erstens bei den Trägermedien: Von welchem Medium auf welches Medium wird etwas übertragen? Zweitens bei der Syntax oder der Zeichenbildung: Wie werden hier eigentlich verständliche Zeichen erzeugt? Und drittens, das ist der Aspekt, der sozusagen in die Ecke gedrängt wird, und ich werde auch am wenigsten darüber sagen: Was heißt das eigentlich für die Bedeutung dessen, was übertragen wird?

Erstens also noch einmal, welche Medien kommen zum Einsatz? Das vielleicht älteste, vielleicht elementare Medium, könnte – wir haben es gesehen bzw. gehört – der Körper oder der Leib eines Menschen sein. Wichtig ist, dass es der Körper oder der Leib sein könnte, nämlich der Körper als ein Objekt, mit dem man etwas anstellen kann, und der Leib als das, was ich selber fühle. Man kann das ganz gut den verschiedenen Sinnen zuordnen. Wenn auf dem Körper etwas stattfindet, dann ist es meistens sichtbar oder hörbar. Das heißt, diese Distanzsinne – meistens die von jemand anderem als dem zum Medium gemachten Körper – werden angesprochen, wenn man das verstehen soll, was auf diesem Körper passiert. Es ist aber auch so, dass die Nahsinne angesprochen werden, und das ist dann vor allem, wenn mit einem, mit meinem Körper etwas passiert. Also, ich rieche etwas, ich schmecke etwas, vor allem fühle ich aber etwas, das heißt es wird in mich eingegriffen. Das war ja der Aspekt, den ich am Anfang als brutal oder verletzend bezeichnet habe, und ich denke, sobald man anfängt darüber nachzudenken, wie Körper als Medien fungieren, kommt man zu dem Punkt, dass es eben darum geht. Wenn ein Körper konditioniert wird, als Medium zu funktionieren, und das kann auch simples Training sein, geht das bereits an die Grenze der Verletzung, weil es eben gleichzeitig etwas ist, was mit mir angestellt wird, was ich an mir fühle, was mir angetan wird. Es wird meine Membran, meine Außenhaut sozusagen eingeritzt. Das ist der Grund, weswegen die Strukturalisten sehr viel Erfolg hatten mit dem Satz „Diskurse werden in Körper eingeschrieben“. Und sie meinen dabei eigentlich unsere ganze Sozialisierung, weil in diesem Satz eben gleichzeitig die Verletzung mitklingt, die man dabei erfährt und das heißt der problematische oder gefährliche Aspekt dessen, dass man selbst als Medium fungieren kann. Bei Uwe Rasch haben wir Beispiele dafür. Zunächst den Körpertrommler, der auf sich selbst trommelt. Wir haben des Weiteren heute Abend noch einen Schlagzeugspieler, der vibriert oder tremoliert, das wäre sozusagen der Leibaspekt, und er berührt dabei auch die Schlagzeuge, die Trommelfelle. Man sich fragt sich also, kommt jetzt eigentlich der Klang eher davon, dass da mit diesem Körper etwas passiert oder davon, dass er Effekte erzeugt? Weiterhin werden wir einen rückwärts gelesenen Text wiederum rückwärts abgespielt hören, und wir werden sehen, dass auch das einen Verletzungsaspekt hat, weil es in irgendeiner Weise behindert klingt, es klingt beeinträchtigt. Es klingt so, als wäre derjenige, der den Text rückwärts liest und dann wieder rückwärts abgespielt wird, nicht ganz bei sich selber. Das wäre also das, was mit dem menschlichen Körper unter anderem bei Uwe Rasch passieren kann. Die Generallinie ist, denke ich, dass etwas, was ‚eigentlich’ ganz einfach verständlich ist, ins Mühevolle, Qualvolle oder Unbeholfene zurück übersetzt wird.

Es gibt aber auch ganz andere Medien, nämlich zum Beispiel genau das Gegenteil des Humanen, die technischen Medien, bei denen mechanisch oder elektronisch etwas übertragen wird, das heißt wirklich durch Mechanismen, die man programmieren oder die man einstellen kann. Diese Technik kann direkt an den Körper angeschlossen werden, wie beim Körpertrommler eben, der nur deswegen so gut funktioniert als Instrument, weil er technisch verstärkt wird. Es ist so, dass man auch gegen den Körper arbeiten kann mit diesen Medien, indem man spiegelt, verzerrt, etwas rückwärts laufen lässt. Und schließlich ist es so, dass Uwe Rasch sogar etwas einsetzt, was man Medienvermittlungsmedien nennen könnte, nämlich Projektion und Simulation. Also: Man kann etwas, das auf Glas passiert, durch Computermanipulation so aussehen lassen, als würde es sich im Wasser ereignen, indem man einfach die Sache verzerrt, und insofern wird durch die Übersetzung in einem elektronischen Medium ein anderes Medium zumindest simulativ hergestellt. Solche Möglichkeiten hat man, wenn man mit Elektronik als Medium arbeitet. Man hat aber des Weiteren noch etwas, das auch sehr wichtig wird heute Abend, man hat synästhetische Trägermedien, bzw., wie man eher sagen müsste, Medienmaterialien. Das alles ist ja Materie oder Stoff, das alles kann auf verschiedene Weise zum Klingen oder zum Zerbrechen oder zum Sich-Bewegen gebracht werden – und das heißt, es wirkt auch auf verschiedene Sinne. Und auch das ist relativ entscheidend. Gerade, wenn man an Glas und Wasser denkt. Das sind eigentlich klassische Medien visueller Anschauung, also die intellektuellsten Medien, die wir haben. Entweder wir schauen einfach durch, es ist ganz transparent, wir sehen alles, erkennen alles, oder es wird glatt zurück gespiegelt. Im zweiten Idealfall haben wir eine ganz, ganz getreue Abbildung, ohne Fehler sozusagen. Es gibt ein Stück, das wird Silizum O2 heißen, und da geht es genau um das Medium Glas, und da wird eben das thematisiert. Und das Interessante ist, es findet ein Übergang statt, der sich dann nicht mehr visuell verstehen lässt, sondern eigentlich nur haptisch. Glas kann zerbrechen, Wasser kann in Schwingungen geraten, und in beiden Fällen wird die klare Sicht gestört. Das Glas spiegelt nicht mehr, ist nicht mehr durchsichtig. Das Wasser verzerrt den Gegenstand. Das Problem ist, wenn man verstehen will, was das bedeutet, muss man sich an die haptischen Materialqualitäten erinnern. Und schließlich kommen dann natürlich auch die akustischen ins Spiel, sie werden sogar eingespielt – beim Glas nämlich. Oberglas ist von einer Fabrikdecke gefallen. Man tritt jetzt durch dieses Oberglas und nimmt das Klirren auf. Dazwischen gibt es dann im Stück immer schwarze Stille, gar keine Geräusche – aber das hier Entscheidende ist, es ist wieder ein anderer Aspekt des Glases, der zum Vorschein kommt, das Medium wird als synästhetisch eingesetzt. Ganz am Schluss werden wir auch ein (enthäutetes) Stück Fleisch, das gebraten wird, als synästhetisches Medium erleben.

In all diesen Fällen ist das Interessante, dass sich die Trägermedien gegen den Sinn verselbstständigen. Es kann sich aber auch etwas ganz Anderes gegen den Sinn verselbstständigen, und das ist eigentlich der gewöhnlichere Fall, das ist der Fall, den man aus der Neuen Musik sehr gut kennt, die syntaktischen Ordnungen, die Zeichenstrukturen können sich verselbstständigen. Hier kann sich Uwe Rasch in einem breiten technischen, auch spieltechnischen Vokabular der Neuen Musik bedienen. Das Interessante ist, dass er das wieder macht, um Übersetzungsleistungen vorzuführen. Ich gebe einfach einige Beispiele, ich kann es jetzt viel kürzer machen, weil ich bei den Trägermedien eher ausführlich war. Man kann so etwas vorführen wie eine Umstellung der Tonsprache. Das ist sozusagen das Allergewöhnlichste: man geht in einem Stück, das Fehlkopie heißt, von der diatonischen Stimmung, von Schubertharmonien, zu, wenn ich mich nicht verlesen habe, Viertel- und Achteltonhöhendifferenzen über und erhält auf einmal ein ganz anderes Notationssystem und auch ein ganz anderes akustisches Wahrnehmungssystem. Auf einmal klingt, wie das Uwe Rasch selbst erläutert, im Vergleich mit diesen Viertel- und Achteldifferenzen die Sache nicht mehr sauber, die sich als diatonische Musik normalerweise ganz rein hören lässt. Also, das ist das sozusagen Konventionellste, was man hier machen kann. Man kann aber auch kodifizierte Klangerzeugung oder Instrumentalberührungen in Körpersprache übersetzen – zum Beispiel eben Trommeln auf dem Schlagzeug. Wenn hier erneut der Körper ins Zentrum rückt, hat das den Effekt, dass man sich auf einmal fragt: Was ist eigentlich Ursprung und Ziel dieser Bewegung? Das hatten wir schon: Wird der Körper eher als solcher von sich aus aktiv oder geht es eben darum, auf diesem Instrument diesen exakten Impuls zu setzen? Weiterhin kann man von vorgefundenen Bewegungskomplexen einzelne Einheiten absondern und sie gegeneinander setzen. Das wiederum hat der Körpertrommler (nicht zu verwechseln mit dem tremolierenden Schlagzeuger) vorgeführt: Man kann einzelne Teile des Körpers aussondern und kann Bewegungsabläufe zerteilen und dann synthetisch wieder neu zusammensetzen, aber so, dass fraglich wird, worin eigentlich die Einheit der Bewegung besteht. Und um das Alles überhaupt übersetzbar oder spielbar zu machen, muss man eigene Notationssysteme entwickeln, das heißt man kann sich nicht bei den vorgegebenen Notationssystemen begnügen, sondern man muss neue Notationssysteme schaffen, um das überhaupt zu vermitteln. Das Interessante ist, dass das geht, dass man in der Lage ist tatsächlich Spielern durch ein selbst erfundenes Notationssystem, natürlich mit Anleihen an konventionelle Zeichen, zu vermitteln, was man gern von ihnen hätte. Und es fragt sich – das ist eine sehr interessante philosophische Frage –, inwiefern ist eigentlich die Syntax, die wir bemühen, verfügbar oder unverfügbar? Können wir die tatsächlich frei umgestalten? – Schließlich wird hier auch eine Verselbstständigung der Syntax wichtig, die in direkter Beziehung steht zur Laut- und Schriftsprache. Sie wird nämlich, gerade beim Köpertrommler, auch übersetzt in Laute, die man einfach als solche erzeugt. Wenn man hier ganz genau hinhört oder den Text vor sich hat, kann man Kafkatextstücke hören oder sie sich zumindest als darunter gelegt vorstellen. Und gleichzeitig ist das Lauterzeugungssystem, was wir normalerweise zur Verständigung bemühen, aufgelöst in einzelne Lautelemente, die Selbstständigkeit gewinnen.

Hier stellt sich nun die zentrale Frage, die ich schon angedeutet hatte, was heißt das eigentlich für Sinn und Bedeutung dessen, was da übertragen worden ist? Die einfachste Lesart wäre: Sinn und Bedeutung sind nicht Zweck, sondern Angriffsziel der medialen und syntaktischen Verschiebungen, die Uwe Rasch herstellt. Das hieße, sie werden blockiert, sie werden zerfressen, sie werden angegriffen. Es wird auf jeden Fall Sinnverständnis, unmittelbares Sinnverständnis, so wie wir es gewohnt sind, verhindert. Das ist ganz klar dann, wenn eben ein Text in nicht mehr sofort verständliche Laute zerlegt wird. Es gibt aber auch eine umgekehrte Lesart. Verständlichkeit wird nicht etwa konterkariert, sondern Verständlichkeit wird eigentlich mit ungeheurer Mühe wieder angestrebt. Man nähert sich sozusagen der Schwelle der Verständlichkeit und kommt beinahe an den Punkt, dass man die Laute des Körpertrommlers schon als einen Satz hören kann. Das wäre genau die umgekehrte Bewegung. Sinn wird nicht erzeugt, sondern Sinn wird beinahe erreicht. Also, auch diese Möglichkeit gibt es, aber noch interessanter wird das Ganze dadurch, dass es auch die Möglichkeit gibt, dass eine Lautverschiebung oder Lautverselbstständigung oder überhaupt eine Verselbstständigung der Zeichen und Medien die Sache mit Sinn anreichert. Sinn wird dann nicht etwa blockiert, sondern der Bedeutungsraum wird erweitert, wie mir das am Anfang hoffentlich zu zeigen gelungen ist mit dem Schritt von der Fehlkopie zur Fellkopie. Man kommt auf ganz neue Sinnschichten und kann sie auf eine neue Weise identifizieren.

Ganz genau so ist es, wenn Uwe zum Beispiel das Rückwärtslesen einsetzt. Es gibt da die schönen kurzen Sätze in diesem Stück, in dem wir dieses Rückwärtslesen hören werden: „Sich als etwas Fremdes anblicken, den Anblick vergessen, den Blick behalten.“ Die Bewegung, die hier inhaltlich stattfindet, ist eigentlich eine, die durch das Rückwärtslesen ganz gut veranschaulicht werden kann, exemplifiziert werden kann, weil es ja darum geht, dass etwas verfremdet wird und dann doch wieder lesbar gemacht wird – aber der Fremdheitseffekt bleibt bestehen, und auf ihn kommt es an. Es ist aber auch so, dass das Medium der Geschichte Kafkas sehr stark entgegen kommt. Die Textpassagen, die vorgelesen werden, kommen aus einer Geschichte, wo es um eine Frau geht, die auf den Ich-Erzähler diejenige Beziehung hat, dass sie alles an ihm hasst und ärgerlich findet und schrecklich findet und seine ganze Existenz fundamental ablehnt. Das ist sozusagen der stärkste Akt von ‚sich als etwas Fremdes sehen’, wenn man sich diese Perspektive für einen Moment zu eigen macht. Und insofern kommt das, was mechanisch durchs Rückwärtslesen und wieder Abspielen mit dem Text passiert, sehr stark dem Textsinn entgegen. Man kann sich umgekehrt aber auch vorstellen, dass einfach der Sinn der Zeichenkonstellation und der Sinn des medialen Selbst an die Stelle des Textsinnes tritt. Das ist der Fall, wenn die Medien selbst thematisch werden, wie zum Beispiel bei diesem Stück Silizium O2, bei Glas. Da ist es so, dass man tatsächlich den Anblick vergessen kann und den Blick behalten, nämlich den Blick auf das, was da unmittelbar mit dem Medium, das man normalerweise nur bemüht und einsetzt, geschieht. Und wenn man alle diese Aspekte, Blockade des Sinnes, Erweiterung des Sinnes oder Ersetzung des Sinnes zusammennimmt, dann könnte man sagen, es findet eine Art Kampf statt zwischen einerseits den automatisch verständlichen Bedeutungen, auf die immer wieder, wenn auch immer nur ansatzweise Bezug genommen wird, und auf der anderen Seite zwischen den vorintentionalen Strukturen der Sinnerzeugung, also all dem, was schon sinnvoll und vernünftig ist in unserem Reden und in unserem sonstigen uns medial Verständigen, in unserem Töne hören usw., was wir uns aber eigentlich nicht auf der Ebene der Absichten, der Ziele und Zwecke bewusst machen, was immer verschwindet als Mittel zum Zweck, aber auch selbst hervorgehoben werden kann.

Damit bin ich beim letzten Punkt, nämlich bei der Frage, wenn so mit möglichem Sinn verfahren wird, was ist eigentlich der Sinn der Übertragungsleistungen, die Uwe Raschs Stücke vorführen? Man kann sich der Sache erst mal noch einmal anzunähern versuchen, indem man sie zusammenfassend beschreibt. Ich biete drei Beschreibungen an, die alle tentativ und nicht vollständig sind. Erstens – ich glaube das ist bisher relativ deutlich geworden –, kann es darum gehen, die Konditionierungen sichtbar oder fühlbar zu machen, kraft derer wir Absichten, Zwecke oder Bedeutungen überhaupt haben können. Das heißt, wir müssen das eingeübt haben, dass unser Körper als Medium dieser Absichten, Zwecke und Bedeutungen funktioniert, und es ist ungeheuer wichtig, dass wir mit diesen materiellen Medien verschaltet sind, mit ihnen umgehen und viele Dinge einfach automatisch vollziehen, sonst hätten wir nicht diese Absichten, Zwecke, Bedeutungen. Und dieses Unterhalb (der Schwelle der Absichten, Zwecke, Bedeutungen) wird deutlich gemacht, wird hervorgehoben, wird eigens thematisiert. Das ist wohl der einfachste Deutungsaspekt. Wenn man es komplexer beschreiben will, könnte man sagen, dass so etwas stattfindet wie eine Öffnung des Menschlichen, des Humanen aufs Vor- oder Nicht-Humane. Das Menschliche könnte man identifizieren mit „Wir verständigen uns“, „Wir verfolgen Zwecke“, „Wir weisen Bedeutungen zu“. Allerdings brauchen wir dazu Dinge, wir müssen mit Dingen umgehen, um das zu tun. Und die Menschen werden bei Uwe Rasch, glaube ich, ziemlich oft diesen Dingen angenähert – am ehesten natürlich, wenn der menschliche Körper zum Instrument wird – und sie werden in den Kafkatexten, um die es zum Teil geht, eben auch Tieren angenähert, die ja auch diesen Bewegungsapparat haben, die auch diese Funktionsweise haben und die eben ein Fell haben, wie wir eine Haut haben, die uns also in entscheidenden Aspekten ähneln. Diese Tiere sind uns also in dieser Weise der Zeichenerzeugung auch wesentlich näher gebracht, als wir sie sonst im Allgemeinen sehen würden. Das ist nicht so, dass man jetzt genetisch oder hirnphysiologisch herausgefunden hätte „Aha, Menschen funktionieren wie Tiere“, sondern wir müssen einfach schauen, wie wir mit Zeichen und Bedeutungen umgehen, und sehen „Ah ja, selbst darin ist ziemlich viel Animalisches“. Also, das Menschliche wird geöffnet zum Tierhaften, Animalischen und auch zum bloß Dinglichen. Und schließlich, pardon, das sind jetzt zwei philosophische Fremdwörter nacheinander, könnte man auch sagen: Es geht um einen Strukturalismus mit existenzialistischem Bodensatz. Strukturalismus ist das, was ich die ganze Zeit geschildert hatte. Die Strukturen unserer Sinnerzeugung, die vorbewussten Strukturen unserer Sozialisierung, unseres Miteinander-Umgehens werden ans Licht gehoben und eigens thematisiert – und zwar so, dass es mühsam ist oder dass es gefährlich ist, dass diese Strukturen eine Rolle spielen. Das ist das, was ich den existenzialistischen Bodensatz nennen würde. Es geht also darum, dass wir immer wieder an die Grenzen, die Schwellen unseres Selbstseins, unseres Einander-Verstehens und Miteinander- Lebens geführt werden, aber eben so, dass es ständig als gefährdet erscheint, dass man sich fragt, ob man diese Leistung überhaupt noch vollbringen kann. Es ist stets prekär, und man fragt sich, geht es überhaupt? Das waren jetzt mögliche Beschreibungen: Erstens, unsere Konditionierungen werden sichtbar und fühlbar. Zweitens, wir werden aufs Nicht-Humane hin geöffnet. Und drittens ist es eine Art Strukturalismus, aber mit eingeschriebener Existenzgefährdung. Die Frage ist nun natürlich: Wie deutet man das? Und um solche Dinge zu deuten zieht man, oder ziehe ich am liebsten andere Künstler hinzu. Auch da schlage ich jetzt abschließend drei Möglichkeiten vor.

Das Erste ist: Man könnte tatsächlich noch einmal bei den Kafka-Texten ansetzen und wird da extrem fündig, weil es in ihnen natürlich die ganze Zeit um offene Grenzen zur Ding- und Tierwelt geht. Einer der Texte, die das am Schönsten versinnbildlichen, liegt auch als Text dem eben gehörten Stück zugrunde; er heißt „Die Sorge des Hausvaters“. Die meisten von Ihnen kennen das. Es geht um ein Wesen mit dem Namen Odradek, erst wird es als es, dann wird es als er bezeichnet. Dieses Wesen sieht aus wie eine Zwirnspule, einige verfilzte Fäden hängen unordentlich daran, und es hat eine Verstrebung und eine Art zweites Bein und kann darauf stehen und sich sogar bewegen durch Treppenhäuser und Korridore. Das Interessante ist, dieses Ding ist nicht früher einmal nützlich gewesen, hat nicht mal einen Zweck gehabt und ihn dann verloren, sondern im Gegenteil, man hat das Gefühl, es ist schon immer so gewesen. Und das ist genau das Problem. Man kann es zweckmäßig nicht einordnen. Man kann es auch semantisch nicht einordnen. Man muss nämlich diesen eigenen Namen erfinden, Odradek. Es hat nur einen Eigennamen und keine Art- oder Gattungsbezeichnung, und Kafka macht sich sogar den Spaß, dass er sagt: einige sagen es kommt aus dem Tschechischen, andere sagen es kommt aus dem Deutschen, aber alle diese Herleitungen haben leider nie einen Sinn ergeben. Derjenige, der das alles schildert und der zusehends beunruhigt ist über Odradek, ist eventuell der Hausvater, der im Titel steckt; er spricht nur ganz am Ende des Textes. Odradek wird sozusagen immer lebendiger. Man erfährt, dass er sich eben durch diese Korridore und Treppenhäuser bewegt, dass er mal eine Zeit aus dem Haus ist, dann ist er wieder da. Man erfährt weiterhin, dass man ihn auch ansprechen kann, und auf einfache Fragen gibt er Antworten, zum Beispiel, wie er heißt. Manchmal kann man auch ein Gelächter bei ihm provozieren – aber der entscheidende Punkt ist, der Hausvater fragt sich, wenn dieses Ding überhaupt keinen Sinn und Zweck hat, ist es dann eigentlich sterblich? Und die Antwort ist: Nein, eigentlich nicht. Also, wenn es noch nie zu was gut gewesen ist, dann kann es sich auch an nichts abarbeiten, nichts erfüllen und nicht zugrunde gehen. Der letzte Satz lautet ungefähr „Und dieser Gedanke, dass mich dieses Ding eventuell überleben könnte, ist mir doch ein wenig schmerzlich.“ Man kann das sofort auf klassische Philosophen beziehen, zum Beispiel auf Aristoteles, wo es so ist: die Dinge haben einen Zweck, sie keimen erst auf, entwickeln sich, dann erfüllen sie diesen Zweck, und wenn sie ihn erfüllt haben, gehen sie wieder zugrunde. Das ist der natürliche Gang der Dinge, und der Hausvater ist auch eine prominente Figur bei Aristoteles. Das ist der Ökonom oder Ökodespot, derjenige, der das Haus regiert und überblickt. Die Frage ist: Was macht so ein Hausvater in einer Gesellschaft, wo es Mietshäuser und Korridore mit Treppenhäusern gibt? Anscheinend bekommt er Probleme und Schwierigkeiten, und anscheinend wächst ihm die Dingwelt über den Kopf. Auf jeden Fall sieht er sich auf einmal sinn- und zwecklosen Dingkonstellationen ausgesetzt, die anscheinend seine gesamte Existenz bedrohen, weil sie nicht mehr in seine Ordnungskategorien passen. Was man aus dieser Kafka-Geschichte machen kann, ist eine simple Umkehrung. Adorno hat das unter anderem versucht. Er bezieht sich nicht auf Aristoteles, aber die Umkehrung hat er gemacht. Er hat gesagt: „Na ja, schön, dann liegt unsere Überlebenshoffnung anscheinend beim jetzigen Stand der Gesellschaft eigentlich nur noch in der Annäherung an die nicht humane Welt. Das heißt, wir dürfen die gegebenen Strukturen der Sinnerzeugung gar nicht mehr akzeptieren, wir sollten sie nicht mehr akzeptieren, wenn wir einfach unser physisches Überleben wollen. Wir sollten diese gesamten Strukturen der Sinnerzeugung in Frage stellen, wenn wir die gegebene Zweckordnung nicht mehr akzeptieren. Das wäre eine Möglichkeit und man könnte sagen, das ist um die Mitte des 20. Jahrhunderts die Möglichkeit, die mit der Annäherung ans Nicht-Humane und die Strukturen der Zeichen- und Sinnerzeugung verbunden ist.

Eine zweite Möglichkeit, das mache ich kürzer, findet sich knapp nach der Mitte des 20. Jahrhunderts, in der Nachkriegszeit. Viel bei Uwe Rasch erinnert mich an Joseph Beuys. Der sensible Umgang mit dem Material, dass die Materialien selber sprechen, dass verschiedene Sinneseben gleichzeitig angesprochen werden und natürlich auch wieder, dass es um Tiere geht, dass es um Stoffe geht, dass aber immer menschliche Grundkonstellationen in diesen Tieren und Materialien ausgedrückt werden. Also, zum Beispiel, man wird gewärmt, etwas wird weiter geleitet, wird übertragen und so fort. Man könnte sagen, das ist jetzt eine mögliche historische Deutung von Beuys, es geht eigentlich auf der einen Seite um die Selbstauflösung eines anthropologischen Pathos, das sagt: „Das ist der Mensch. Das sind die Grundbedingungen unseres Daseins.“ Beuys zeigt: Die Grundbedingungen unseres Daseins sind gar nicht mehr menschlich. Und die andere Möglichkeit, es zu verstehen, ist zu sagen: „Das sind die Bedingungen des Überwinterns in der industriellen Taiga.“ Also, es wird eine ganz einfache, stammesgesellschaftliche Situation imaginiert, und dafür werden Industriematerialien verwendet.

Auch das ist eine Möglichkeit, die nicht mehr ganz aktuell ist, und deswegen habe ich mir überlegt, worum könnte es noch gehen, worum könnte es heute gehen bei Uwe Raschs Stücken. Eine Möglichkeit, die mir eingefallen ist, wäre: Es geht darum, dass heute wieder sehr stark synthetische Sinnordnungen eingerichtet werden. Das heißt, nachdem die kulturellen Bemühungen lange darauf zielten, wirklich Sinnordnungen zu zerstören, aufzulösen, zu verschieben, geht es jetzt eigentlich vielerorts darum – in führenden Philosophien und führenden Kirchen, auch unter führenden Politikern – Sinnordnungen zu entwickeln, in denen sich alle wohlfühlen können. Und diese Sinnordnungen haben eigentlich genau die Übertragungsmühen eingespart, die Uwe Rasch vorführt. Es gibt wenig, was Leute, die mit Computern arbeiten, mehr fürchten als Medienbrüche, dass zwischen dem einen und dem anderen Medium eine Spalte klafft. Man kann nicht glatt rübergleiten, sondern man muss sozusagen die Leistung erbringen, vom Computer jetzt an den anderen Schreibtisch zu gehen, zum Telefon zu gehen usw. Das soll vermieden werden, gleichzeitig wollen große Organisationen – egal, ob das Kirchen oder Konzerne sind – ihre Botschaft möglichst professionell herüberbringen, ohne dass das Medium überhaupt in Erscheinung tritt. Ein weiterer, wichtiger Punkt (das ist sozusagen altes Gedankengut der Kulturkritik): Niemand soll sich beim Aufnehmen anstrengen müssen, das heißt die Medien machen es einem besonders leicht. Und schließlich sollen die Inhalte und Verständnisformen bruchlos miteinander vermittelbar sein. Was Uwe Rasch mit seinen Übertragungen zeigt, ist, dass das nicht funktionieren muss und dass es vielleicht besser ist, wenn es nicht funktioniert, wenn nämlich die Übertragung vom einen Medium ins andere, von einem Sinnsystem ins andere etwas Mühevolles, potentiell Verletzendes, Problematisches ist und bleibt. Das heißt, wenn Übertragung stattfindet, gibt es Reibungsverluste, und es gibt auch Reibungsprodukte. Die Reibungsverluste gewinnen sozusagen etwas Positives, und man kann mit diesen Reibungen weiterarbeiten, weil ja die Reibung auch ein Ereignis ist, an das man sinnvoll anknüpfen kann. Deswegen könnte man vielleicht in Anlehnung an das, was in dem einen Kafka-Stück gesagt wurde: „sich selbst als etwas Fremdes ansehen, den Anblick verlieren, den Blick behalten“, eine andere Formel finden für das, was heute Abend vielleicht noch passiert. Man könnte sagen: etwas umständlich übertragen, das Übertragene aus dem Blick verlieren, die Umstände behalten. Danke!