Für eine kleine Musik

aus: Positionen100, 2014

Beschreibt man den Unterschied zwischen Realität und Realem mit Slavoj Zizek in Bezug auf Lacan so, dass Realität durch Menschen in echten Interaktionen in Produktionsprozessen stattfindet, so grenzt sich das Reale von der Realität in der Weise ab, dass das Reale versucht, sich von diesen konkreten Beziehungen zu lösen und von bloßen abstrakten Mechanismen, der Funktionsfähigkeit der „Maschinerie“, von Rechengrößen und Rentabilitätsüberlegungen auszugehen.

Jegliche Aktivität ist in diesem Beziehungsgeflecht zu sehen, es bildet die gesellschaftliche Grundlage auf der auch ästhetische Produktion stattfindet. Die daraus für Zizek sich ergebende Frage lautet: „Was wäre die ästhetische Entsprechung eines solchen Realen, was könnte so etwas wie der ‚Realismus der Abstraktion’ sein?“

Stärke und eine Schwierigkeit für künstlerische Produktion und damit auch der Kunstmusik oder besser der Musik als Kunst ergibt sich daraus, dass die Darstellung bloßer abstrakter Zusammenhänge – das Funktionieren der Maschinerie – nicht umsetzbar ist, sondern immer an konkrete Menschen und ihre subjektive Wahrnehmung gebunden sind. Die Arbeit könnte darin bestehen, Beispiele zu finden, um diese Zusammenhänge deutlich zu machen und eine Ästhetik zu entwickeln, die versucht sich diesen Problemen gegenüber nicht naiv oder gar „idiotisch“ zu verhalten.

In der Realität mit den konkreten Musikern arbeiten, ohne das Reale zu ignorieren oder diese Zusammenhänge zu verschleiern – geht das?

Idiotes, schwachsinnig bedeutet: einfach, besonders, einmalig; schließlich durch eine semantische Erweiterung, deren philosophische Bedeutung von großer Wichtigkeit ist, intelligenzlose Person, vernunftloses Wesen. Jede Sache, jede Person ist folglich idiotisch, wenn sie nur in sich selbst existiert, das heißt, unfähig ist, anders zu erscheinen, als dort, wo sie ist und so, wie sie ist: in erster Linie also unfähig, sich zu reflektieren, in der Verdoppelung des Spiegels zu erscheinen. Aber letztendlich ist dies das Schicksal jeder Realität, sich nicht verdoppeln zu können, ohne zugleich anders zu werden: das von Spiegel zurückgeworfene Bild ist mit der von ihm suggerierten Wirklichkeit nicht kongruent.

Spiegel-Distanz, Reflexion, Double statt Duplikat

Um einen Arbeitsansatz zu finden, muss man einen Schritt zurücktreten, um sowohl die Realität wie das Reale angemessen wahrzunehmen und nicht im Sog dieser kraftvollen Zusammenhänge unterzugehen. Es muss ein Werkzeug gefunden werden, mit dem man Artifizialität in einer Weise herstellt, die diese Zusammenhänge medial reflektiert.

Durch den Einsatz eines „Spiegels“ entsteht eine Distanz und eine Verbindung jeweils zwischen dem Realen und der Realität. Im umfassenden Sinn kann alles gespiegelt, kann alles reflektiert werden. Und: es entsteht ein artifizielles Double oder mehrere mit dem /mit denen sich arbeiten lässt.

Woher bezieht man sein Material, seine Energien? Welche Bereiche sind für künstlerische Arbeit „attraktiv“ ?

Fundort gespiegelter Realität ist in großen Teilen das Internet, ist youtube (vielleicht ist youtupia der Nichtort gegenwärtiger die Wahrnehmung stark beeinflussender Mediensekrete). Oftmals naiver Spiegel umfangreicher Tätigkeiten, Spielplatz unterschiedlicher Niveaus, Ansprache und im oben genannten Sinne idiotischen Absichten. Hier stellt sich die Schwierigkeit der Auswahl und die Gefahren der bloßen Verdopplung der objets trouvées, des found footage und seiner eingesetzten Mittel (Stichwort: wackelnde Handkamera, die fast schon zum Klischee geworden ist). Schaffung von Differenzen, von Umkontextuierungen und Abweichungen sind unabdingbar, damit das Double das Identitätsprinzip aufbricht und nicht zum bloßen Duplikat verkommt.

Wie umgehen mit dem Realen, mit der Darstellung von Mechanismen, mit der „Maschinerie“, mit den oftmals unerkannt hinter dem Rücken der Akteure verlaufenden Prozessen?

Ins Zentrum blicken, am Rande arbeiten

Fruchtbar scheinen mir dafür einige Stichworte zu sein, die ich in Gilles Deleuze/Felix Guattaris Buch Kafka. Für eine kleine Literatur gefunden habe, und mit denen ich – selbst ein Double schaffend – reflektierend umgehen möchte, um sie auf die Musik anzuwenden. Deleuze/Guattari beschreiben Kafkas besondere Situation als deutschsprechender, westeuropäischer, säkularisierter Jude, der in einer tschechisch sprechenden Umgebung lebt. Deutsch als deterritorialisierte, verarmte Sprache (Pragerdeutsch) einer bürgerlichen Minderheit, das sich „am falschen Ort“ befindet und das sich zu Kafkas Lebzeiten nach dem Zusammenbruch des deutsch dominierten Habsbuger Reiches nach dem I. Weltkrieg vollends zu einer „Fremdsprache“ verwandelt und Kafkas artifizielle Situation samt seiner Sprache steigert. Gerade durch die Artifizialität seiner Situation und seiner Sprache, bieten sich für Kafka bestimmte künstlerische Operationen an.

„ … wenn sich der Schreibende am Rande oder außerhalb seiner Gemeinschaft befindet, so setzt ihn das um so mehr in die Lage, eine mögliche andere Gemeinschaft auszudrücken, die Mittel für ein anderes Bewusstsein und andere Sensibilitäten zu schaffen …“

Deleuze/Guattaris Schlussfolgerungen sind zusammengefasst und verkürzt folgende:

  • nüchternes Vorantreiben der Deterritorialisierung
  • den ausgetrockneten Wortschatz intensiv vibrieren lassen
  • statt eines symbolischen bedeutungsschwangeren einen intensiv-materialen Sprachgebrauch nutzen,

um so als „Gastarbeiter“ in der eigenen Sprache eine „kleine Literatur“ zu entwerfen. Die entstehende „kleine Literatur“ kennzeichnen die beiden Autoren so: „ … drei charakteristische Merkmale einer kleinen Literatur: Deterritorialisierung der Sprache, Koppelung des Individuellen ans unmittelbar Politische, kollektive Aussageverkettung.“ Auch wenn man Deleuze/Guattaris Schlussfolgerungen nicht teilt, dass Kafkas „… literarische Maschine den Boden bereitet für eine kommende revolutionäre Maschine, nicht als vorauslaufende ‚Ideologie’ …“, – denn woher sollte dieser Gedanke in unserer konkreten Situation sich speisen -, so scheint mir doch für das Erfinden, für das Schreiben von Musik der Gedanke fruchtbar zu sein, in diesen Darstellungen von Deleuze/Guattari Hinweise dafür zu finden, wie dem Realen zu begegnen ist und wie die Realität und das Reale künstlerisch musikalisch aufeinander treffen können.

Wohl wissend, dass die zur Literatur geäußerten Einschätzungen nicht schlicht übertragbar sind, so denke ich, dass sie doch eine Menge Stoff bieten, um über die wertvolle gesellschaftliche (Rand)Position der neuen Musik, wie auch über Arbeitsverfahren nachzudenken.

Die in Bezug auf Deleuze/Guattari gefundenen Begrifflichkeiten nenne ich stichwortartig vorab. Um nicht zu ausufernd zu werden und die Darstellung übersichtlich zu halten, möchte ich einige Beispiele von Kompositionen meiner stock11-Kollegen in Korrespondenz zu diesen Stichworten äußerst knapp erläutern, die selbstredend nicht alle bei allen und nicht alle in jedem Stück zu finden sind:

  • Segmente, Gruppen, Verkettungen, Serien
  • Aussageverkettungen und maschinelle Aggregate
  • Verzicht auf Symbole, Metaphorik, Allegorie
  • Erfahrungsprotokolle, Vorgänge in Verfahren, Prozesse verwandeln, experimentelle Versuchsreihen, „soziopolitische Erfahrungsprotokolle“
  • Statt Kritisieren Zeigen
  • Präsenz statt Repräsentation, Verkörperungen

Beispiele

Um Zusammenhänge und Mechanismen kenntlich zu machen, möchte ich mich auf das auffällige Abarbeiten in Werkgruppen oder –serien, in denen die Stücke selbst nur Beispiele geben, beschränken.

Michael Maierhof widmet sich in seiner splitting – Serie ganz dem Klang, wobei ein zentrales Moment darin zu sehen ist, dass er den „Hochklang“ der traditionellen Instrumente durch „Niederklang“ verändert, transformiert, ersetzt. Dazu dienen entweder durch Ergänzung bzw. Erweiterungen durch Alltagsgegenstände wie z. B. Plastikbecher mit ihren oftmals resonatorischen Wirkungen oder auch klangtransitorischen Verfahren, wenn die Plastikbecher wiederum mit zusätzlichen Materialien angereichert werden (z.B. Murmeln). Ebenso entwickelte er eine eine spezielle Untertontechnik für Streichinstrumente bis zur Ersetzung des klassischen Instrumentariums, z.B. gibt es Stücke, die ausschließlich Luftballons als Instrumentarium nutzen die er empirisch untersucht und seriös in ihren reichen Klangfacetten erprobt. Die Unterscheidung zwischen edlen und unedlen Klängen wird als gesellschaftlich gesetzte Differenz aufgehoben und bearbeitet.

Auch Maximilian Marcoll hat seine eigene Werkgruppe mit seinen compound-Stücken entwickelt, wobei das Verfahren der Klangtranskription ebenfalls auf eine Korrespondenz zwischen „hoch- und niederkulturellen“ Klangereignissen angewendet wird. Er hat seine Arbeitsweise mehrfach erläutert, so dass hier auf eine Darstellung dessen verzichtet werden kann. Es sei stellvertretend nur auf sein Stück Compound No. 1 a : CAR SEX VOICE HONKER für Akkordeon solo und Elektronik hingewiesen, in dem das Akkordeon die bekannten Klangatmosphären mit unterschiedlichen transkribierten Atmosphären verkettet: es ist Lunge, Stimme, Hupe.

Christoph Ogiermann arbeitet mit seiner begonnenen Werkreihe „inner empire“ sowohl mit „heruntergekommener“ Sprache, wie auch mit Musiziergesten, bewusst unterkomponierten und/auch improvisatorischen Segmenten, die innere Zwangssysteme thematisieren und versuchen nach außen zu kehren, um so die Musik wie den Musiziervorgang mit seinen psycho-sozialen Komponenten zu beeinflussen und damit zu einer anderen Klanglichkeit und einer Wahrnehmung der nach außen gestülpten inneren Musizierbedingungen der je konkreten Musiker und ihrer Verkörperung des Klanglichen vorzudringen.

Martin Schüttler komponiert seit Jahren an seiner schöner leben-Serie und bezieht sich dabei explizit auf das Internet als Fundgrube. Das Ausgangsmaterial für schöner leben 7 („Äußerlich auf dem Damm, aber verkorkst im Innern.“ – D.F.W.) (2011) für Saxophon mit Fußkeyboard, Kopfhörer, Verstärkung und Zuspielungen sind die ersten Töne eines Saxophon lernenden Kindes, die von einem Profi gedoubelt und in anderes Material eingebettet werden. Daran kann beispielhaft nachvollzogen werden, wie Fundstücke aus dem Internet in Prozesse verwandelt werden , nicht die „Armseligkeit“ des gefundenen Materials gegeißelt wird, sondern musikalische Erfahrungsprotokolle in seine Versuchsreihe aufgenommen, segmentiert und neu zusammengesetzt und musiziert werden; nicht um ein Duplikat hervorzubringen, sondern um das entstehende Material und die resultierenden Differenzen zu reflektieren und den Hörern als Erfahrung anzubieten.

Hannes Seidls Medienarbeiten mit dem Videokünstler Daniel Kötter führten bislang zu einer Folge von Stücken in denen „soziopolitische Erfahrungsprotokolle“ vielleicht ihren deutlichsten Niederschlag finden. In Falsche Freizeit Elektronische Arbeitsplätze für den Ruhestand aus dem Jahr 2011 beispielsweise werden die mittlerweile aus dem Berufsleben verschwundenen Tätigkeiten von vier verrenteten, diese Tätigkeiten ehemals Ausübenden als Freizeitbeschäftigung vorgeführt.

Die Klänge entstehen aus diesen Materialaktivitäten, werden gemischt und mit Videomaterial aus ihrem Berufs- und Privatraum versetzt, so dass für das Publikum die Ausführenden sich und ihrer Tätigkeit selbst begegnen, die Trennung von Arbeitsverläufen, Privatheit und Freizeit tendenziell aufgehoben wird. Die Aufspaltung von Arbeits- und Freizeit wird als dynamischer gesellschaftlicher Mechanismus gekennzeichnet, Aussageverkettungen und maschinelle Aggregate fallen zusammen. Die Ausführenden sind zugleich Interpreten und Nichtinterpreten ihrer materialbezogenen „rohe“ Klänge absondernden Tätigkeiten. Es werden Körpergesten in Verbindung mit Klang initiiert.

„Der Ausdruck muß die Formen zerbrechen, die Bruchstellen und neuen Verzweigungen angeben. Ist eine Form dann zerbrochen, so gilt es, den Inhalt zu rekonstruieren, der zwangsläufig mit der Ordnung der Dinge im Bruch sein wird. Den Stoff mit sich fortreißen, ihm vorauseilen. ‚Kunst ist ein Spiegel, der ‚vorausgeht’, wie eine Uhr – manchmal.’“

Serien laden dazu ein, nicht abschließende „Meisterwerke“ abzuliefern. Zusammenhänge werden nicht einmalig und final behandelt, sondern tauchen in jeweils neuen Konstellationen auf, sind unabgeschlossen, Beispiel gebend, erweiterbar, prozessual – und hoffentlich produktiv.

Für mich sind das Aspekte einer nicht „idiotischen“ (s.o.), sondern einer sowohl die Reflexionsfähigkeit wie auch die Sinne anregenden , vielleicht sogar diese herausfordernden Arbeit, sind das Versuchsanordnungen auf dem Weg einer kleinen Musik, die nicht intendiert die Mechanismen des Realen außen vor zu lassen und die Spannung zwischen Realität und Realem zu ignorieren. Damit sind es Aspekte einer nicht „schwach –sinnigen“ Musik; denn die neue Musik braucht keine große Musik zu sein , im Sinne einer gesellschaftlichen Großfunktion, einer offiziellen musikalischen Dienstleistung. Während neue Musik vielleicht „vorausgeht, wie eine Uhr – manchmal“ , kann sie bereits Gehörtem nachgehen, dann wäre neue Musik auf produktive Weise Widerkehr der bisherigen.