Kafka-Triologie
Von: Prof. Dr. Nicolas Schalz
Aus: Passagen, Kreuz- und Quergänge durch die Moderne, S. 608 f, ConBrio Verlagsgesellschaft, Regensburg 1998
Die Trilogie enthält zwei lange, gut dreiviertelstündige Teile und einen sehr kurzen, etwa drei bis vierminütigen Teil; die Teile sind besetzungsmäßig sehr verschieden; sie lassen sich ohne Probleme auch einzeln aufführen. Die Reihenfolge der drei Stücke ist nicht festgelegt. Es spricht aber einiges dafür, mit dem ältesten Stück (Nr. 1 im folgenden) zu beginnen, das jüngste und kürzeste (Nr. 111 im folgenden) in die Mitte zu nehmen und mit Nr. 11 (Korridor) abzuschließen; die beiden großen Teile sind insofern aufeinander beziehbar, als sie formal Kammeropern sind oder zur Kammeroper hin tendieren; das kurze Stück läßt sich von seiner Faktur (s. unten) her als eher kammermusikalische Klammer zwischen den mehr szenischen Außenteilen verstehen.
KafkaTrilogie, Teil Nr. 1
„Sich als etwas Fremdes ansehn, den Anblick vergessen, den Blick behalten“ DisTanzVerläufe nach Textteilen von Franz Kafka, 199 1, für Sopran, falsettierenden Bariton, Viola, Violoncello, Baßklarinette, Tenorposaune, EGitarre und Schlagzeug
Im Stück werden zwei Texte Kafkas miteinander verschichtet: Vom Tonband kommen Teile aus Eine kleine Frau, die im Voraus von hinten nach vorne gesprochen und nun vorwärts abgespielt werden; das Rückwärtssprechen verzerrt den Text, läßt ihn wie „mit einer Behinderung gelesen“ erscheinen. Es ist der „innere Monolog“ eines Mannes, der sich fragt, warum er von der „kleinen Frau“ gehaßt wird und keine andere Antwort erfährt, als daß allein schon seine Existenz für sie hassenswert ist. Im gesungenen Text erklingen Teile aus Beschreibung eines Kampfes der eigene Körper wird hier als „FremdKörper“ geschildert, dies in Benennungen von körperlichem Unwohlsein, Irritationen, Verletzungen, Beschädigungen, ,Verkörperung‘ von Andersartigkeit“. Die „Geschichte“ ist „organisiert durch den Tanz“, „sowohl strukturell in den einzelnen Abläufen, den Einsätzen der Musiker, wie auch als Bewegungsmoment, wobei dem Kreisen als dem expliziten Tanzelement besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird“. Inhaltlich geht es im Stück, neben der primären Thematisierung des „Fremden, Fremdseins, Sich-FremdFühlens“ (ausgedrückt in der Verselbständigung von KörperVerläufen der Musiker) und des „Hasses auf Andersartigkeit“, auch um die „Sehnsucht nach Verständnis“, zumindest unterschwellig, also „um die momenthafte Aufhebung des Fremdseins“; der Gesamtverlauf des Stückes macht allerdings deutlich, daß alle Begegnungs und Berührungsversuche mißlingen.
KafkaTrilogie, Teil Nr.II
„ … und ich mache zwar einige Grabungen, aber nur aufs Geratewohl, natürlich ergibt sich so nichts …“
Korridor, Kammeroper 199294. Orientierungsverfahren für fünf zischende Schlagzeuger, einen Körpertrommler und Tonband nach Materialien von Franz Kafka und Claudio Monteverdi
Die Einführung in das Werk im Programmheft der Uraufführung hält wesentliche Aspekte des Stückes fest: Korridor „ist der zweite Teil der KafkaTrilogie ( … ). Als [musikalischer] Materialsteinbruch liegt Korridor das Madrigal und die Monodie Lamento d ́Arianna von Claudio Monteverdi zugrunde sowie als Textmaterial Teile aus Tiergeschichten Kafkas (…) für die Schlagzeuger und Fetzen aus Die Sorge des Hausvaters für den Körpertrommler. In zum Großteil fließenden Zeitordnungen, instabilen Tempi, stetigen Unterbrechungen und immer neuen Ansätzen von Zeitschritten‘ tasten sich die Schlagzeuger durch das Zeitgestrüpp des Stückes. In der irrgartenähnlichen Anlage des Werks verstricken sich die Spieler immer von neuem im Zeitdschungel, Schneisen schlagend für Augenblicksorientierungen. ich habe mich in die Büsche geschlagen. , …ich hatte keinen anderen Weg, immer vorausgesetzt, daß nicht die Freiheit zu wählen wäre.‘ (Kafka)“ Der Titel Korridor verweist auf einen „Durchgangsraum“, auf einen Weg, in dem man immer wieder Türen aufstoßen, in die geöffneten Räume hinein und auf den Flur wieder zurückgehen kann. „Ein solcher Weg hat auch etwas Labyrinthisches. Vielleicht gibt es einen Ausweg, aber man weiß nicht, ob man ihn findet.“
KafkaTrilogie, Teil Nr. III
Hammer, 1994 Über Flüssiges, für zwei Baßklarinettenspieler
Rasch hat dem kurzen Stück den folgenden Text Kafkas vorangestellt:“… er streicht nur manchmal leicht mit dem Hammer über die Wände, als könne er mit ihm das Taktzeichen geben, das die große wartende Maschinerie der Rettung in Bewegung setzt. Es wird nicht genau so sein, die Rettung wird einsetzen in ihrer Zeit unabhängig vom Hammer, aber irgend etwas ist er doch, etwas Handgreifliches, eine Bürgschaft, etwas, was man küssen kann, wie man die Rettung selbst niemals wird küssen können.“ (Franz Kafka) Die hauptsächliche Spielanweisung lautet: „Beide Interpreten spielen von Beginn bis zum Schluß ohne Zäsuren mit ständiger Zirkularatmung. Es sollen keine Klappen-, Finger-, Mund-, Luft- oder sonstige Geräusche entstehen. Angestrengt konzentriertes Spiel in körperlicher Spannung und leichtem körperlichen Reagieren aufeinander.“
Das Stück kann in drei Versionen aufgeführt werden: einmal sozusagen völlig lautlos, auch wenn die Töne instrumental alle artikuliert werden müssen; dann so, daß hin und wieder einzelne Töne so leise wie möglich erklingen, anschwellen; schließlich so, daß die Töne zwar leise entstehen, dann aber ins Unhörbare zurückkippen.