aus vierundzwanzig

Von: Julian Kämper

Aus: Booklettext zu Schubertmaterialien; 2015

Seit 2009 arbeitet der Komponist Uwe Rasch an einem Werkkomplex, der unter dem Titel aus vierundzwanzig eine zeitgenössische Adaption von Franz Schuberts 1827 entstandenem Liederzyklus „Die Winterreise“ darstellt. Es handelt sich bei diesem Werkprojekt um eine moderne, kreative und zugleich poetologische Retrospektive und Interpretation, die mal auf strukturelle, satztechnische und konzeptionelle Merkmale der Originalvorlage, mal auf den Assoziationsreichtum der Texte Wilhelm Müllers in Schuberts Vertonungen zugreift. Formal handelt es sich um ein modulares System, das assoziativ und materialisch zusammenhängt, aber keiner strengen Linearität folgt. Als ein work in progress erlaubt es unterschiedliche Kombinationen der einzelnen Module in Abhängigkeit von Raum und Besetzung sowie auch die Isolierung der Fragmente, die ihre Eigenständigkeit im Zyklischen nicht verlieren. Dabei entstand über die Zeit ein Sammelsurium – ein Materialhaufen (Uwe Rasch) – an Videos, Animationen, Fotos, Collagen, Choreografien, Texten, Audiozuspielen und Instrumentalkompositionen. In Bewegung, Szenerie, Gehalt, Körperhaftigkeit, Medialität und künstlerischer Ausdrucksweise recht unterschiedliche Elemente also, die in einer multimedialen Kollektion korrespondieren und einander kommentieren.

Es sind unterschiedliche Lesarten des „Wegweisers“, dem 20. von insgesamt 24 Liedern der „Winterreise“, mit denen aus vierundzwanzig: zwanzig den Einstieg in die vorliegende, rund 45- minütige Fassung bildet und sie durchzieht: Die Ruhe- und Orientierungslosigkeit, das stete und stagnierende Laufen und Drehen im Kreis. Für Uwe Rasch ist das nicht romantische Topik, nicht romantische Melancholie, sondern nüchterne Realität unserer Zeit: Ich gehe von einem gezielten Missverständnis des romantischen Ansatzes aus: Die enttäuschte romantische Liebe bietet für diese Arbeit keinen Anlass und die Texte Wilhelm Müllers bilden nur mehr einen Assoziationsrahmen, Ausgangspunkte oder auch Widerstände in der Suche nach Musik. Übernommen wird die Aktivität: zielloses Umherschweifen eines erschütterten Menschen in einer Stadt. Das trifft die Realität von Streunern, Obdachlosen, Pennern, Straßenkindern und wie die Bezeichnungen alle heißen; kaltes Unterwegssein (Uwe Rasch ).

Marginalisierung und gesellschaftliche Isolation des Einzelnen ist einer der zentralen Gedanken, um den die Module immer wieder kreisen. Eiseskälte, soziale Kälte, wird gleich zu Beginn spürbar, wenn im Audiozuspiel Atem- und Eisbecher-Geräusche (ATEM, EISBECHER, FLÜSTERN) zu hören sind und der Komponist simultan aus Richard Rortys „Kontingenz, Ironie und Solidarität“ und Zygmunt Baumanns „Moderne und Ambivalenz“ flüsternd zitiert. Nur punktuell sind Textphrasen zu verstehen, denn schnell überlagern sich in steigender Lautstärke drei Textebenen, denen jeweils eigene Schichten von rhythmisierten Atem- und Eisbecher-Geräuschen zugehören. Sie sind detailliert auskomponiert, jeder Ebene ist ein eigenes Metrum zugeordnet. Bereits hier zeichnet sich ab: Die Kompositionen gehen über bloße konzeptionelle Setzungen hinaus, sind bisweilen höchst komplex, präzise und feinsinnig auskomponiert.

Es erscheint auf der Bildebene die Blaue Blume (HÖLZERNE DRÜCKFIGUR: BLAUE BLUME) als das Symbol schlechthin für die Epoche der Romantik und die Natur, hier aber als synthetisierte Natur (Uwe Rasch). Sehnsuchtsvolle Rückenfiguren, wie sie C. D. Friedrich etwa in seinen Gemälden über Nebelmeeren in die Weite blicken ließ und die der romantischen Kunst des 19. Jahrhunderts anheimfallen, bleiben aus zugunsten eines nüchternen Realismus – die Schauplätze sind andere: Im nächsten Element von aus vierundzwanzig: zwanzig richtet sich der Blick von oben auf eine am Boden liegende Tänzerin, deren Kopf, Rumpf und Extremitäten umschlossen sind von Pappkisten (PAPPE, KLEBEBAND). Die Exposition eines Protagonisten? – dafür ist die Figur zu undefiniert, Gesicht und Geschlecht bleiben verhüllt. Vielmehr ist die Figur ein Sinnbild für das Kalte Unterwegssein: Aussichtslos, ausgeliefert, „desorientiert-fuchtelnd“ bis „gleichförmig repetierend“, wie jeder Bewegungsablauf in der Partitur individuell charakterisiert ist, durchläuft die Tänzerin die ersten neun von insgesamt 32 Figurenpositionen, die für eine „kurze Weile starr eingehalten werden, bis die Aktion zur Erreichung der nächsten Zielposition beginnt“. Es werden weitere elektronisch bearbeitete Pappgeräusche hinzugespielt, sodass die Synchronität von visueller und akustischer Ebene gereizt und gestört wird. Die Orientierungssuche, das Abtasten und Nachspüren des Weges und der Zielrichtung gehen durch den gesamten Körper.

Das Prinzip einer auf dem Rücken liegenden Figur, umhüllt von undekorativem, pragmatischem und industriellem Material – Material der Straße, könnte man sagen – wiederholt sich in abgeänderter Form in aus vierundzwanzig: dreizehn. Der Kopf, das im Lied „Die Post“ besungene Herz, Arme und Beine der Tänzerin stecken in Quadern aus Styropor. Hier wird kein Brief geschrieben, stattdessen ist die Figur eingepackt in Material, das bei Postsendungen wertvolle und zerbrechliche Ware schützt. So ist auch diese Figur ihrer natürlichen Bewegungsfreiheit beraubt, simuliert ist ein beschädigter oder zumindest beeinträchtigter Körper. Die digital multiplizierten Styropor-Figuren mitsamt der Beschleunigung von Bild und Ton erzeugen einen verzerrten, motorisierten, maschinellen Klang – das Gegenteil natürlicher Bewegungsmuster. Die Antagonismen Bewegung und Stagnation sind in den ephemeren wie den bildenden Künsten formgebend und Mittel emotionalen Ausdrucks. Dass Bewegung Musik und vice versa Musik Bewegung erzeugt, kann im künstlerischen Arbeitsprozess als Allgemeinplatz unbeachtet bleiben. Uwe Rasch hingegen interessiert sich für die Kausalitäten zwischen Bewegung/Körper und Musik/ Kunst, für „Musik als Leibesübung“ und für das Ausloten der Grenzen physischer Belastbarkeit und entwickelt daraus viele seiner musik(theatr)alischen Arbeiten. Produktions- und Aufführungskontexte sowie die Rolle des Interpreten werden nicht ausgeblendet, sondern sind Sujets innerhalb des künstlerischen Prozesses. Denn gerade die experimentell und spielerisch angelegten Kompositionen erweisen sich für die Interpreten manches Mal als prekäre Herausforderungen.

Mit einer Komposition für ein Glissando-Flötenensemble nimmt Rasch eine weitere Übersetzung der „Wegweiser“-Thematik vor, die konkretes Tonmaterial aus Schuberts Vorlage verwendet: Die meist geschichteten Melodietöne, auf die alle eine kleine Terz gesetzt wurde, sind ständig „unterwegs“, es gibt keine stabilen Töne. An den Fermaten entstehen tatsächlich „Stopps“ aus mikrotonalen Klängen, die Schwebungen setzen den jeweiligen Klang aber in sich in Bewegung, sodass kein stehender Ton oder Klang existieren kann (Uwe Rasch). Ermöglicht wird dies über eine besondere Mechanik der Glissando-Flöte: Durch ein ausziehbares Kopfstück, das rechts und links vom Kinn fixiert wird, kann der Flötist durch Zusammen- oder Auseinanderschieben die Flöte verlängern oder verkürzen, sodass ohne Griffwechsel leicht auszuführende, stufenlose Glissandi möglich sind. Der Klavierpart steht laut Partitur „für sich“, schiebt sich als gliederndes Element unter den wabernden Glissandi-Komplex. Mit der viermaligen Wiederholung eines aus der Ferne aufgenommenen Flageolett-Tones zitiert Rasch hier das Wandermotiv aus Schuberts erstem Takt und unterstützt es zusätzlich durch die Rückung der Bildfläche. Visuelles Gegenstück zur Musik ist der Bildausschnitt einer Brücke (STEPHANIEBRÜCKE BREMEN), die mit Graffiti, d.h. Kunst im öffentlichen Raum, ausgestaltet ist und deren doppelsinnige Symbolkraft als Grenzen überbrückender Pfad und als Unterschlupf von Obdachlosen sich als Kommentar einstellt.

aus vierundzwanzig: zweiundzwanzig, die Bezugnahme auf das Lied „Mut“, ist eine spielerische Versuchsanordnung. Uwe Rasch zersetzt in aller Konsequenz die Melodie in Einzelereignisse und gibt die einzelnen Töne mit Boomwhackern wieder, bunten und tonal gestimmten Kunststoffröhren. Fünf Figuren-Paare, die Draufsicht lässt nur die schwarzen Hüte und die Arme der Interpreten sowie die bunten Röhren erkennen, stehen sich gegenüber und bringen die Musikinstrumente durch das Schlagen auf die Schulter des Gegenübers zum Klingen (BOOMWHACKER, HÜTE). Jeder Schlag wurde einzeln aufgenommen, anschließend wurden die Videosequenzen in der richtigen Reihenfolge montiert. Hier wird der obligatorische Schulterklopfer als Zeichen moralischer Ermutigung musikalisiert. Und mehr noch: aus der theatralischen Geste generiert sich erst die Musik. Wieder wird die Kausalität von Bewegung und Musik, von körperlichem Impuls und akustischem Resultat thematisiert. Inspiriert ist diese Setzung auch von einem medienhistorischen Querverweis: Durch die montierte Einzelaufnahme springt das Bild, es läuft nicht zeitgerecht, so wie in Stummfilmen die Bildgeschwindigkeit nicht der unserer heutigen Gewohnheit entspricht. Unterstützt wird diese Anspielung durch den schwarzen Hut, schwarze Kleidung, anstatt des Handstöckchens ein Boomwhacker. Diese Kleidung ist stereotypisch für Chaplin-Filme, z.B. „The Tramp“, in dem Charlie Chaplin als ständig umherreisender, arbeitsloser Landstreicher den Protagonisten gibt (Uwe Rasch).

Über das Lied „Wirtshaus“ heißt es bei Harry Goldschmidt: Grausame Ironie: Das Grab wird mit einem Wirtshaus verglichen. Die visuelle Umdeutung in aus vierundzwanzig: einundzwanzig kommt gleichsam zynisch daher : Zusehen ist ein Pfandflaschenautomat (LEERGUTANNAHMESTELLE im REWE BREMEN NEUSTADT, GLASFLASCHEN), dem in regelmäßigen Abständen Bierflaschen über ein Beförderungsband zugeführt werden. Schlichtheit und Minimalismus können hier einen weiten Assoziationsraum öffnen. Das Bild ist auf den Kopf gestellt, ansonsten bleiben Ton- und Bildspur unbearbeitet, im Gegensatz zu den ansonsten so aufwendigen Versuchsanordnungen. Kein Ausschluss für Uwe Rasch, der sich keine Regeln, keine Maximen aufzwingt, sondern mit einem künstlerisch-kreativen Blick auf das zugreift, was ihm im Alltag begegnet.

Motive wie die Blaue Blume, der Hund und der Mann (HÖLZERNE DRÜCKFIGUREN) kehren wieder, verbinden sich mit neuen Motiven oder stellen sich als Kommentar ein. Die in 32 Figurenpositionen durchchoreografierte Papp-Figur zieht sich durch das gesamte Stück, lenkt als starkes Bild die Wahrnehmung immer wieder auf ein leitmotivisches zielloses, um sich selbst kreisendes Kaltes Unterwegssein zurück und flankiert bisweilen andere Material-Figuren. Mikroskopierte und segmentierte Gewebestrukturen, die den verwendeten Materialien entstammen, morphen und überblenden und setzen dadurch Links über die Module hinweg. Entweder antizipierend oder als Replik an Dagewesenes, mit Verzicht auf eine lineare Narration. Rhizomartig hängen die Partikel in diesem Materialhaufen zusammen. Die Module sind Anordnungen, Bilder und Zustände, die sich assoziativ ergänzen, erzählen und fortschreiben. Das Denken und Produzieren in Serien engt den Blick auf musikalische, politische oder ästhetische Aspekte nicht ein, ermöglicht vielmehr eine multiperspektivische Reflexion: Serien laden dazu ein, nicht abschließende „Meisterwerke“ abzuliefern. Zusammenhänge werden nicht einmalig und final behandelt, sondern tauchen in jeweils neuen Konstellationen auf, sind unabgeschlossen, Beispiel gebend, erweiterbar, prozessual – und hoffentlich produktiv (Uwe Rasch ).

Mal sind es Assoziationen und starke Bildhaftigkeit, die Uwe Rasch aus der „Winterreise“ in seine ästhetische Zeichenwelt übersetzt, mal innermusikalische Strukturen. In aus vierundzwanzig: drei wird die strukturelle Idee des Wechselspiels von staccato-Tönen und tenuto-Klängen immanent, die bei Schubert zum musikalischen Sinnbild für „Gefrorne Tränen“ und das Schmelzen des Wintereises werden. Die staccato-Töne sind den insgesamt 5 Sopransaxophon-Stimmen zugewiesen. Der Resonanzkörper eines Klaviers mit permanent gedrücktem Haltepedal bildet das Gegenstück. Die trockenen, kurzen Akzente des Saxophons, die beim Spielen in den Innenraum des Klaviers gerichtet sind, verhallen und bilden latent das komplementäre tenuto. Sukzessiv werden die Saxophon-Stimmen entkernt, bis ein rhythmisch-metrisches Skelett mit nicht nachklingenden perkussiven Akzenten (HOLZ-STICKS, EISENROHRE, KISSENSCHLÄGE) übrig bleibt und das Element des Nachhalls sich verabsolutiert und zum lauten Schuss (PISTOLE) ins Klavier führt (Uwe Rasch). Auf der Bildebene verschränken sich Motive unterschiedlicher Module: Ein menschlicher Torso aus aus vierundzwanzig: sieben, ein Boomwhacker-Element sowie ein Drückfigur-Männchen, das von einer mikroskopierten Styropor-Struktur überblendet wird. In ihrer Anordnung und mit dem Prinzip von kurzer Bewegung und ruhendem Standbild entsprechen sie der musikalischen Idee.

Die Anordnungen, wie hier meist vor schwarzem Tableau, sind flächig, Räume werden nicht aufgespannt und Orte bleiben undefiniert. Die mehrmals gewählte Perspektive der Draufsicht, die Uwe Rasch in den Videoarbeiten, etwa bei den Papp-, Styropor- und Fächerfiguren, einnimmt, erzeugen eine Form von Distanz und Abstraktion. Zu Erkennen sind Bewegungsmuster, Kontext und Motivation hingegen bleiben unbekannt: In jenem Raum entstehen Wege beim Gehen und verwischen sich wieder (Zygmunt Baumann). Größenrelationen und Tiefendimensionen sind irrational und schaffen eine Fremdartigkeit, obwohl die konkreten Materialien jedem vertraut sind. Die Figuren sind gesichts- und geschlechtslos, verhüllt und entpersonifiziert, sie sind niemand oder alle, irgendwo oder nirgends.

Mit dem Hunde-Chor in aus vierundzwanzig: vier erweist sich Raschs Faible für die Literatur Franz Kafkas als einflussreich, was insbesondere seine Kafka-Trilogie und deren diverse Auskopplungen belegen. In Kafkas Erzählung „Forschungen eines Hundes“ heißt es: Damals wußte ich noch fast nichts von der nur dem Hundegeschlecht verliehenen schöpferischen Musikalität, sie war meiner sich erst langsam entwickelnden Beobachtungskraft bisher natürlicherweise entgangen. Aus einem 3-sekündigen Klangschnipsel mit Hundegeheul komponierte Rasch einen Hunde-Chor. Er griff sich dafür ein Detail aus Schuberts Komposition „Erstarrung“ heraus und macht eine Viertelnote zum Fixpunkt: die einzige Stelle im gesamten Stück, an der die permanente triolische Begleitfigur für einen kurzen Moment zum Stillstand kommt. Kombiniert ist das Heulen der Hunde mit einem prächtig blühenden Feld aus Blauen Blumen – besser: einem synthetischen, ironischen Abbild davon – und wiederum der Männchen-Figur: die drei wiederkehrenden Elemente (HÖLZERNE DRÜCKFIGUREN) sind wieder vereint. Tiersymbolik, wie sie in Kafkas Erzählungen zahlreich zu finden ist, gibt es auch in der „Winterreise“. So ist etwa die Krähe, titelgebend für das 15. Lied in Schuberts Zyklus, ein „wunderliches Tier“ und treuer Begleiter zum Grabe. Bei Uwe Rasch finden sich an anderer Stelle in den Videozuspielungen ein Specht, der geräuschhaft an einem Messingstab herab rattert, und der Hund, der ikonografisch für die Treue steht.

Eine dritte Figur in aus vierundzwanzig: sechszehn, wiederum in ein „armes“ Material verhüllt (PLASTIKFOLIE, KLEBEBAND, HOLZ) und in Draufsicht gefilmt, ist Schuberts Lied „Letzte Hoffnung“ zugeordnet. Wieder bleibt die Identität der Tänzerin verschleiert, wieder ist ihre Bewegungsfreiheit determiniert: Nachdem sich die Papp-Figur nur auf einem Punkt um die eigene

Achse dreht, die Styropor-Figur fast in Erstarrung nur Kopf und Arme bewegen kann, ist die Bewegung der mit dem Rücken am Boden fixierten Figur auf das Wälzen um die Längsachse beschränkt. Die Assoziation mit dem Blatt, das im Wind zittert und die letzte Hoffnung in sich trägt, und mit einer möglicherweise eintretenden Wende drängt sich unweigerlich auf. Strukturell liegt der Choreografie die Unterteilung eines Kreises in acht Achtel zugrunde, die Kreissegmente werden in den Figurenpositionen variativ kombiniert. Die mit einer Plastikfolie bespannten Holzlatten reiben über einen mit Schrauben durchsetzten Holzuntergrund, an dem Tonabnehmer angebracht sind. Als Pendant zur Achtel-Segmentierung der Fächerfigur wurden die aufgenommenen Klänge um Millisekunden verzögert und auf acht Tonspuren verteilt, für die jeweils ein künstlicher, elektronischer, akustischer Raum kreiert wurde. Zu hören sind nur diejenigen Tonspuren, die den in den Figurenpositionen „aktiven“ Achteln entsprechen. Mit der asymmetrischen Verteilung der Klänge auf links und rechts steuert der Komponist auf akustischer Ebene der Einstellung eines räumlichen Schalleindrucks entgegen, entsprechend der Ortlosigkeit seiner visuellen Anordnungen: Die Fächerfigur besitzt einen ganz anderen, eigentlich gedoppelten Raum: durch die verschiedenen Räume der acht Spuren und durch zusätzliches Springen oder allmähliches Übergehen von links nach rechts, so dass der Raum(klang) sich in gewisser Weise ablöst von der Bewegung und nicht der schlichten Logik folgt: rechter Arm ist rechts zu hören (Uwe Rasch).

Die Komposition aus vierundzwanzig: zwei, eine Version der „Wetterfahne“, eingerichtet für Baritonsaxophon, Fleischwolf und Zuspielung, ist aus einer zufälligen Entdeckung heraus entstanden. Das eiserne Küchengerät (ROTER FLEISCHWOLF von ALEXANDERWERK) ist hier nicht in erster Linie als konzeptioneller Alltagsbezug zu verstehen. Das Kurbeln des Fleischwolfs imitiert vielmehr akustisch und visuell das Quietschen und die Richtungslosigkeit einer rostigen Wetterfahne. Der Fleischwolf ist dazu ein scharf-morbider Kommentar zur Textzeile „Was fragen Sie nach meinen Schmerzen?“ – wird hier jemand spöttisch durch den Fleischwolf gedreht? Seelischer wird zu physischem Schmerz. Ausgangspunkt dieser Komposition ist aber der klangliche Eigenwert des Objektes: Schuberts Struktur einer über weite Teile unisono geführten Klavierstimme spiegelt sich in der klanglichen Ähnlichkeit und der Parallelität von Fleischwolf und den besonderen Spieltechniken des Baritonsaxophons wider – in der sogenannten Hochoktave kann das Instrument bis zu einer Dezime über den üblichen Tonbereich überblasen werden: „dünner, substanzloser, aber atmender Ton“, wie es in der Partitur heißt. Es brechen laute, überladene Geräuschkomplexe herein, die formal Zäsuren, klanglich einen Kontrast zum fragilen Instrumentalsatz bilden. Das Material für diese Zuspielungen entstammt unter anderem aufgenommenen Eisenbahnschienen-Geräuschen sowie den Tonspuren der Spielfilme „Jurassic Park“ (CRASH) und „Terminator“. In ihrer Materialität gehen die Klangobjekte – allesamt metallisch – Verbindungen ein, wenngleich als unterschiedliches Medium, ob live gekurbelt und gespielt oder im Tonstudio produziert und zugespielt.

Spielzeuge, Fundstücke, Requisiten, Plastik: Der Komponist widmet sich den alltäglichen Dingen und nivelliert hierarchische Ordnungen. Er nimmt ihre – visuell wie akustisch interessante – Materialbeschaffenheit, insbesondere ihre musikalische Ipseität ernst, entwickelt aus ihnen heraus Formideen. Er stellt sie nicht als Fremdkörper oder reinen Clou aus, sondern arbeitet mit dem Material. Eine bloße Verdopplung des „found footage“ ist unzureichend: Schaffung von Differenzen, von Umkontextuierungen und Abweichungen sind unabdingbar, damit das Double das Identitätsprinzip aufbricht und nicht zum bloßen Duplikat verkommt (Uwe Rasch ). Wie die in liebevoller Handarbeit hergestellten Figuren sind auch die Objekte wie der Fleischwolf Unikate, die musikalische Idee und damit die Aufführung des Stückes sind an dieses Exemplar gebunden. Wenngleich sich diesbezüglich ästhetische wie pragmatische Fragen nach dem Materialverfall der Objekte und Szenerien oder nach der universellen Aufführbarkeit der Werke stellen, haftet Uwe Raschs Arbeiten dadurch eine wohltuende persönliche Note und ein Charme an, der sich von der kulturbetrieblichen Manier, mit Auftragsarbeiten standardisierte Besetzungen und Aufführungskonventionen zu bedienen, loslöst.

Als visuelle Körperkomposition bezeichnet der Komponist seine Arbeit ausvierundzwanzig: sieben. Nur der Torso einer kopfüber herabhängenden Tänzerin ist in Rückenansicht im Blickfeld. Uwe Rasch findet hier eine neue Art, den menschlichen Körper äußerlich zu deformieren und durch einen Rückentanz – etwa das Kreisen und Anziehen der Schultern – zu abstrahieren. Es stellt sich ein beklemmendes Gefühl ein, beobachtet man doch eine Person, die mit ihren vor der Brust verschränkten Armen in einer imaginären Zwangsjacke gefangen zu sein scheint und sich vergeblich windet: Bewegungen eines verletzlichen, nackten, schutzlosen, aufgehängten Stück Fleisches (Uwe Rasch). Heißt es bei Wilhelm Müller „Auf dem Flusse“, so sind oben und unten hier verkehrt: Der Torso befindet sich unter dem Eis, das Wasser rinnt über den Rücken, die Haare hinunter und tropft auf eine heiße Herdplatte, auf der es zischend – und dem Leidenfrost-Effekt nach: springend – verdampft. Nicht nur Anstrengungsgeräusche der Tänzerin und damit das Selbstreferenzielle des Akts der Performance spielen akustisch mit hinein, sondern auch von der Tänzerin geflüsterte Worte und Zahlen, die einer vom Komponisten erstellen Text-Zeit-Struktur mit Textfragmenten aus den Liedern „Mut“ und „Erstarrung“ entstammen, die gleichzeitig als Vorlage für die Bewegungsabläufe dient. Medienwechsel wie diese – vom Semantischen zum Grafischen zum Zeitlichen zum Performativen zum Klingenden – werden auch hier zu Mitteln, um die Elemente, (Klang-)Objekte und Materialien zu vernetzen, digitale und abstrakte Produkte haptisch erfahrbar zu machen, konventionelle Formen von Notation und Fixierung dynamischen Prozessen zu unterziehen oder variierende Abhängigkeiten innerhalb des Materialhaufens zu provozieren.

„Willst zu meinen Liedern deine Leier dreh‘n?“ – mit diesem Resignation und Hoffnungslosigkeit verheißenden Satz beendet Schubert seinen Zyklus. Uwe Rasch tut ihm gleich und setzt aus vierundzwanzig: vierundzwanzig ebenfalls an das Ende. Musikalisch handelt es sich um ein Duo, in Anlehnung an Schuberts Protagonisten, der sich zum „wunderlichen Alten“ hinzugesellt. Für Uwe Rasch produziert der Identifizierungsakt zwischen Wanderer und Leiermann nicht eine gemeinsame Summe, sondern etwas Drittes, etwas Neues, Differenzen. Jenseits des melancholischen Schubertschen Endstückes, entfaltet sich hier etwas, das „nicht da“ ist, sondern aus der Begegnung entsteht (Uwe Rasch). Differenz- und Kombinationstöne nämlich, die durch Parallelführung der Sopransaxophone, mikrotonale Glissandi, dynamische Abstufungen und unterschiedlich starkes vibrato entstehen. So prägt auch hier wieder das allgemeine Wechselspiel von Bewegung und Stillstand das kompositorische Konzept, denn das Stück changiert zwischen formaler Monotonie – es gibt kaum Pausen und Zäsuren, beide Instrumente spielen in Zirkularatmung – und Bewegtheit im musikalischen Innern durch die klanglichen Interferenzen und Differenztöne, alles andere als auskomponierte Armut (Harry Goldschmidt). Dieser Klangfarbenreichtum kann vom Komponisten zwar evoziert, aber nicht berechnet werden, das besagte Dritte, das Resultat der Begegnung zweier Protagonisten bleibt undefiniert. Ebenso unbestimmt ist in diesem Finale auch das Zusammenwirken der zahlreichen visuellen Elemente, die nochmals aufgegriffen werden. Die zuvor bewegten Videoarbeiten sind zum Stillstand gekommen, deren Lesarten und Selektierung bleiben dem Beobachter überlassen.

Mal sind die assoziativen Verknüpfungen ums Eck gedacht, manchmal direkt und erfrischend unmittelbar. Die Bilder und Klänge können hinsichtlich ihrer musikhistorischen oder politischen Konnotationen gelesen werden, durch die Kenntnis von Schuberts „Winterreise“ finden sich Schlüssel für Raschs formale und strukturelle Entscheidungen. Kraft ihrer detailreichen, liebevollen, spielerischen und handwerklich erschaffenen Szenerien und eigenen Ästhetik wirken die einzelnen Module aber auch ohne den intellektuellen Bezugsrahmen. Uwe Rasch bevorzugt einen unbekümmerten, fantasievollen Zugriff auf das Material, der künstlerische Arbeitsprozess gleicht einem „Spielen“ mit Komponenten aus Unterhaltungs- und Hochkultur, mit grotesken und surrealen Setzungen, mit simplen oder diffizilen Produktionstechniken und mit diversen künstlerischen Ausdrucksmitteln. Er reibt sich nicht an kulturkritischen Mahnrufen ab, die alltäglichen und billigen Materialien sind kein Affront gegen Kulturinstitutionen oder akademische Dogmen. Stattdessen richtet er einen nüchternen, desillusionierten und desillusionierenden Blick auf den Ist-Zustand und die Ideale der bürgerlichen Gesellschaft (Uwe Rasch). Die politische Sprengkraft in Schuberts „Winterreise“, in der Uwe Rasch die Melancholie des desillusionierten Bürgertums unvergleichlich in Klang gesetzt sieht, äußert sich in aus vierundzwanzig ebenso subtil, tiefschürfend, leise und sinnlich. Eine Art Bilanz, die das eigene Arbeiten, gesellschaftliches Ethos und Moral sowie die Misere derjenigen verhandelt, die von der Gesellschaft marginalisiert und unter den Zeichen der Moderne an den Rand gedrängt werden – das Gegenwärtige ist immer mangelhaft, was es hässlich, abschreckend und unerträglich macht (Zygmunt Baumann). Der erhobene Zeigefinger bleibt aus, stattdessen kreiert Uwe Rasch einen multimedialen Raum der Reflexion durch Verfremdung und Abstrahierung des vermeintlich Bekannten, durch Distanzierung und Spiegelung des Realen und surrealen Verzerrungen. Wir brauchen politischen Einfluss als Akteure einer sozialeren Welt, indem die Unerträglichkeit des Bestehenden stärker empfunden wird und das Bedürfnis nach Veränderung wächst. Vielleicht kann Musik in Ergänzung zu allen rationalen, aufklärerisch-kognitiven Anstrengungen mental, empathisch und sinnlich andere Schwingungen erzeugen, so dass die Wahrnehmung das Wahrnehmen von Zusammenhängen selbst vertieft (Uwe Rasch).