Erinnern, Vergessen, Speichern, Löschen. Musik in der Zeit des digitalen Gedächtnisses

Prof. Dr. Klaus Marx (Mainz)
Uwe Rasch (Bremen)

Montag, 7. Juni 1999, 18.15 Uhr, Atrium maximum (Alte Mensa)

Musik und Gedächtnis, Beispiele in der Kunstmusik des XX. Jahrhunderts

„Ist unsere längst pluralisierte Kultur nur im Gedächtnis oder als Gedächtnis verfügbar? Haben traditionelle Modelle von Erinnern und Vergessen ausgedient angesichts zunehmender Medialisierung öffentlicher Kommunikation und Datenbanken? Muss nicht, wer über Gedächtnis und Erinnern spricht, auch über Wahrnehmung, Lernen, über Wissen und Wiedererkennen, über Zeit und Erinnern, über Aufmerksamkeit und Gefühle reden?“ (S.J. Schmidt) Erinnerung war für die Kunstmusik des Abendlandes unerläßlich: Kein musikalischer Baustein steht für sich, sondern jeder verweist auf den Gesamtzusammenhang, in dem er auf etwas bereits Vorgekommenes oder noch Aufscheinendes bezogen wird. Ein jedes besitzt seine Funktion und seine Bedeutung innerhalb einer Totalität. Die auf diese Weise entstandene und entstehende Musik ist Resultat aus Konjunktionen der verschiedenen musikalischen Parameter, die durch individuelle Stilelemente in bestimmten Formen und Gattungen ihre Ausprägungen finden. Ohne Gedächtnis wären all diese Bezüge gar nicht nachvollziehbar. Dieses Selbstverständnis wird zu Beginn unseres Jahrhunderts „aufgehoben“, relativiert, zerbrochen, übermalt.

Über Jahrhunderte war die Tonalität – und in den letzten dreihundert Jahren die Dur/Moll- Tonalität – Stütze der Gedächtnisleistung und Voraussetzung emotionaler Bezüglichkeit; ein sehr belastbares, zur Identifikation einladendes System: setzte man sich emotional mit der Tonika gleich, erfuhr man unterschiedliche Spannungszustände, die sich – auf der Tonika wieder angekommen – entspannten. Es war also nicht nur intellektuelles Gedächtnis gefragt, sondern auch Körpergedächtnis. Die Kongruenz von Funktionalität der Parameter und Körpergedächtnis, im 19. Jahrhundert schon arg strapaziert, bricht zu Beginn des 20. Jahrhunderts auseinander; an ihre Stelle tritt die Disjunktion, die Verselbständigung einzelner Parameter. Das Auseinandertreten der Funktionalität der Parameter und des bis dahin mit ihnen verbundenen emotionalen Erinnerungsgehalts tonaler Wendungen findet seinen frühen Ausdruck in Arnold Schönbergs atonalem Klavierwerk, wie z.B. op.11 aus dem Jahre 1909: auf der einen Seite das Auslassen tonaler Bezüge und der erwarteten Auflösung von Dissonanzen, auf der anderen Seite ein klar gegliederter Zeitverlauf und die Bewahrung von Elementen tonaler Funktionalität.

Ende des 19. Jahrhunderts entwirft Erik Satie seine „Vexations“, zwei Zeilen Akkorde, die 840mal hintereinander gespielt werden sollen. Eine Extremisierung des Parameters Dauer in Kombination mit Wiederholung des immergleichen führt zu einem nicht-funktional gefüllten Zeiterlebnis, das nicht fesseln will, bar jeglicher Expressivität ist, sich der Orientierungslosigkeit anheim gibt und eine Art aktive Amnesie der romantischen Musik darstellt. Das Spiel mit Wiederholungen, in denen Klang- und Zeitverläufe in den Mittelpunkt der Wahrnehmung gerückt werden, finden wir in den USA der 60er Jahre bei den Vertretern der sogenannten Minimalmusik durch Repetitionen einzelner Motive oder Klänge, die phasenverschoben über lange Zeit gleich bleiben; auch hier das bewusste und aktive Vergessen der Kontextualisierung von Musik, wie sie in der Kunstmusik des Abendlandes über Jahrhunderte selbstverständlich war.

Anders als die Minimalisten, die häufig mit tonalen Resten arbeiten, die in einem dynamischen Mittelbereich eine Weile laufen, arbeitete der US-Amerikaner Morton Feldman mit Webmustern atonaler Klänge aus unterschiedlichsten Intervallen. Auf dem von Feldman komponierten schmalen Grad von langer Weile und Langeweile, verliert der Hörer durch die extreme Dauer und die geringe Dynamik der Kompositionen seine Erinnerungsfähigkeit an bestimmte Muster. Ein Spiel aus Erinnern und Vergessen, das keine Hierachien ausbildet und als Resultat nur ein Beispiel eines quasi unendlichen Prozesses zeitigt; denn im Aspekt der endlichen Ausprägung wird die Latenz unendlicher Kombinationsmöglichkeiten aufgezeigt. Ein Fluß gefärbter Zeit strömt in das unendliche Meer nicht nur der Absenz, sondern auch der Absence: ein undialektisches Durchdringen von Erinnern und Vergessen, von An- und Abwesenheiten. John Cage fand für Feldmans Musik die paradox klingende Formulierung:“Die Musik von Feldman kann uns aktiv an nichts erinnern…“

Cage selbst erhoffte sich durch die Benutzung von Zufallsverfahren, durch die Reihung von unverbundenen Ereignissen, Beziehungslosigkeiten herzustellen, in denen die aufeinander folgenden Klänge gleich-gültig sind und sich dem Gedächtnis und der emotionalen Aufladung entziehen. Cages Arbeit ist mehr als nur ein Vergessenwollen, es ist geradezu ein Auslöschungsvorgang, der Platz schafft für andere Hörweisen und sich bewusst von der europäischen Kunstmusiktradition abwendet. War der amerikanische Einfluß auf die Kunstmusik Zentraleuropas zwar immens, so ist ein bewußtes Erinnern und Wenden des Zusammenhangs europäischer Musiktradition nie gänzlich verloren gegangen. Der vollzogene Bruch mit der Musik des 19. Jahrhunderts oder noch älterer Musik wurde von vielen Komponisten angezweifelt, das umso mehr, als dass die alte Musik in unserer Musikkultur überpräsent ist, prononciert ausgedrückt: die Musikkultur des 20. Jahrhunderts ist die des 19ten. Damit ist aber auch die herkömmliche affektive Besetzung des Materials als kultureller, die Hörer prägender Faktor weiterhin präsent, ganz abgesehen von der Macht tonaler, traditionell-affektiver Modelle in der Popularmusik.

Das Körpergedächtnis, von dem schon die Rede war, hatte diese Erfahrungen aus unserem Kulturkreis nie verloren. In den Entwicklungslinien der Moderne, die in einem Rekurs auf alte Modelle und Bezüglichkeiten, selbstverständlich in modernen, eine je zeitgenössische Ästhetik entwerfenden Zusammenhängen beharrte, waren diese Konnotationen völlig vergessen worden.

Bernd Alois Zimmermanns Montagetechnik. in der Verquickung von alter und neuer Musik ist in diesem Zusammenhang genauso zu nennen, wie die musikalischen Übermalungen Luciano Berios, die Anspielungen György Ligetis, die Bezüge Heinz Holligers zu Schumann, das gesamte ästhetische Konzept Helmut Lachenmanns und ganz zuschweigen von den eher nostalgischen, neoromantischen Ansätzen der 70er Jahre. Mathias Spahlinger beispielsweise läßt in einem Streicherduo ein Chanson aus dem 15. Jahrhundert durchscheinen und versucht Erinnerungen an etwas Vergangenes als einen Berührungsvorgang, als einen lebendigen Prozess zu begreifen, in dem nicht einfach in Besitz genommen wird. Indem sich an Altes erinnert wird, entsteht Neues.

„Erinnern hat wenig zu tun mit Informationsabruf auf Datenbanken, aber sehr viel gemein mit gestaltendem Erzählen“.(J.S. Schmidt) Stichwort Informationsabruf: Parallel zur Krise der Romantik wird am Ende des 19. Jahrhunderts die mechanische Schallaufzeichnung entwickelt. Die Kunstmusik ist von da ab nicht mehr nur auf die Erinnerungsleistung und die Interpretationstradition von Musikschaffenden angewiesen. Das ist ein Einschnitt, der in seiner Bedeutung vielleicht am ehesten mit der Erfindung der Notenschrift verglichen werden kann. Die Musik wird der bis dahin geltenden konstitutiven Flüchtigkeit seiner Wahrnehmbarkeit entzogen und durch ihre individuelle, jederzeitige Abrufbarkeit gleichsam dem Vergessen entrissen. Das Hier und Jetzt-Ereignis wird durch ein Überall und Immer ersetzt. Trotz der modernsten Speichertechnologie sind Erinnerungsleistungen in ihrer Struktur wenig davon berührt. Siegfried J.Schmidt schreibt, „dass Erinnerungen sich offenbar nicht im Gedächtnis wie an einem Ort oder in einem Speicher befinden, von wo sie dann gleichsam per Zugriff auf eine Datei abgerufen werden. Erinnerungen ‚existieren‘ wohl an keinem anderen Ort und zu einer anderen Zeit als jetzt im kognitiven System. Erinnern wird hier also als Konstitution eines Erlebnisbereiches eigener Art konzipiert.“ Und weiter:“Gegenwart ist an Bewusstheit gekoppelt, Vergangenheit an Bekanntheit. Damit steht für das Erinnern ein Kriterium zur Verfügung, das unabhängig von Zeit (Vergangenheit) ist. Sinnvolle Erinnerungen brauchen keine Referenz auf Objekte. ( … ) Erinnern konstruiert Jetzt-Vergangenheit durch Geschichten, in deren Konstruktion unsere aktuellen Vorstellungen von der Beschaffenheit der Vergangenheit eingehen. Diese jetzigen Vorstellungen bilden die Referenzebene von Erinnerung, nicht ‚die Vergangenheit‘.“

Mit anderen Worten: die mediale Speicherung, als eine Art Maschinengedächtnis, erleichtert nur den Zugriff, befreit aber nicht von der Erinnerungsarbeit. An diesem Punkt ist das Sampling, also das digitale Erfassen von Schallinformationen interessant, denn im Vergleich zu den bisherigen Schallaufzeichnungsmedien besteht der Sprung vornehmlich quantitativ: die Möglichkeit des Samplings bedeutet die Potenzierung der Aufnahmegeschwindigkeit und des Zugriffs, woraus wiederum eine Zunahme der Verarbeitungsgeschwindigkeit resultiert. In diesem Zusammenhang mag die Technik des Zeitraffers dies verdeutlichen: eine Beschleunigung von Einzelereignissen, die das Erfassen der Einzelheiten kaum mehr ermöglicht und bei der eher die komplexe Verkettung und Rasanz hervorgehoben werden. Durch Extremisierung der Geschwindigkeit, durch Überfülle der durch die Kappung ihrer Koordinaten aus vorheriger parametrischer Zuordnung und Wertung entstehen Beziehungslosigkeiten, d.h. dieses Verfahren kann man sich als eine Art Auslöschungsprogramm vorstellen, in dem vertraute Bezüge aufgegeben und bisherigeKonnotationen vergessen werden. Wir steheJetzt-Vergangenheit.n in der Spannnung zwischen „Lob des Gedächtnisschwunds“ und Innovatio durch Memoria: die Funktionalität und innere Hierachienbildung, die über Jahrhunderte fest mit der Tonalität verbunden und ins Körpergedächtnis eingegraben war, wird durch andere ästhetische Konzepte aufgebrochen; in der Regel durch Extremisierung einzelner Parameter, oftmals extrem langer oder kurzer Dauernordnungen.

Folge ist das Vergessen von Bezügen oder ihre Ersetzung und Auslöschung, um einer Dysfunktionalität Platz zu machen, die bis dahin unbekannte Wahrnehmungen von Ordnungen oder bewusst angelegten Unordnungen ermöglicht und Erinnerungsleistungen überfordert oder überflüssig macht. Eine andere Variante besteht im bewußten Umgang mit der Erinnerung an alte Modelle, die durch bestimmte Eingriffe – wie z.B. Übermalung und Fragmentarisierung – zu einer Resemantisierung führen und damit ein neues Hören von Altem initiieren, Folge: kein statisches, konservierendes, sondern ein dynamisches, das im Gedächtnis Befindliche variierendes Erinnern, jeweils neu entstehende Jetzt-Vergangenheit.